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Ich folge deinem Schatten

Ich folge deinem Schatten

Titel: Ich folge deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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wird.
    Seufzend schlug Pater Aiden seinen Kalender auf. Er hatte im Lauf der Woche mehrere Einladungen bei großzügigen Sponsoren, die die Mönche darin unterstützten, Essen und Kleidung an Hilfsbedürftige zu verteilen. Mehrere von ihnen waren zu engen Freunden geworden. Nun wollte er sich vergewissern, wann er heute Abend mit den Andersons verabredet war.
    Sein Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen: 18.30 Uhr im New York Athletic Club an der Central Park South. Ganz in der Nähe von Alvirah und Willy, dachte er. Wunderbar. Mir ist gerade aufgefallen, dass ich gestern Abend meinen Schal bei ihnen vergessen habe. Alvirah scheint es noch gar nicht bemerkt zu haben, sonst hätte sie heute Morgen bestimmt etwas gesagt. Nach dem Essen bei den Andersons rufe ich bei ihnen an, und wenn sie zu Hause sind, gehe ich kurz bei ihnen vorbei und hole ihn ab. Seine Schwester Veronica, die ihm den Schal eigenhändig gestrickt hatte, würde ihm ordentlich was erzählen, wenn sie mitbekam, dass er ihn an einem so kalten Tag wie heute nicht trug.
    Als er später am Nachmittag das Kloster verließ, kam ihm Neil entgegen, der mit einem Staublappen und einer Möbelpolitur in der Hand gerade das Gotteshaus verließ. »Pater, haben Sie das von der Frau mitbekommen, ich meine die, die ihre Freundin auf den Videoaufnahmen erkannt hat … Ist das die, die ihr eigenes Kind entführt hat?«
    »Ja, ich habe es mitbekommen«, entgegnete Pater Aiden brüsk und gab deutlich zu verstehen, dass er nichts mehr davon hören wollte.
    Neil wollte noch etwas anfügen, denn als er die Videoaufnahmen gesehen hatte, war ihm wieder etwas eingefallen: Etwa zu der Zeit, als diese Moreland am Montag von der Überwachungskamera aufgenommen wurde, hatte er sich auf dem Heimweg zu seiner Wohnung in der Eighth Avenue befunden. Kurz vor der Kreuzung sprang eine junge Frau vor ihm plötzlich auf die Straße und hielt ein Taxi an. Sie konnte verdammt noch mal von Glück reden, dass sie nicht überfahren wurde, dachte er. Ich habe sie genau gesehen.
    Deshalb hatte er sich nachher erneut die Aufnahmen angesehen und sie an der Stelle angehalten, an der Alvirah Meehan ihre Freundin erkannt hatte. Er hätte schwören können, dass die Frau, die ins Taxi gestiegen war, jene war, die er auch auf dem Video erkannte. Aber es konnte doch schlecht ein und dieselbe Person sein … Es sei denn, sie hätte sich mitten auf der Straße umgezogen.
    Neil zuckte mit den Schultern. Das hätte er Pater Aiden eigentlich erzählen wollen. Der aber hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er von dem Thema genug hatte. Geht mich ja auch nichts an, dachte Neil. Aufgrund seiner Alkoholprobleme hatte Neil mit seinen einundvierzig Jahren eine Menge Jobs hinter sich. Am besten hatte es ihm bei der Polizei gefallen. Leider war er nur wenige Jahre Polizist gewesen. Da konnte man noch so sehr betteln und versprechen, man würde mit dem Trinken aufhören, erschien man dreimal betrunken zum Dienst, wurde man hochkant gefeuert.
    Ich hätte alles, was es für einen guten Polizisten braucht, sinnierte Neil auf dem Weg zum Werkzeugschrank. Die Jungs haben immer gesagt, ich bräuchte ein Fahndungsfoto nur ein Mal sehen, und noch ein Jahr später würde ich den Typen aus einer Menschenmenge am Times Square herauspicken. Wäre ich nur dort geblieben! Dann wäre ich jetzt vielleicht Polizeichef!
    Aber er war damals nicht zu den Anonymen Alkoholikern gegangen. Nachdem er von einer Arbeitsstelle zur nächsten weitergereicht wurde, landete er schließlich auf der Straße, bettelte um Almosen und schlief in Obdachlosenunterkünften. Drei Jahre zuvor, als er für eine Mahlzeit hierhergekommen war, hatte einer der Mönche ihn zu einer Obdachlosenunterkunft der Franziskaner in Graymore geschickt, wo es ein Resozialisierungsprogramm für Männer wie ihn gab, und dort war er endlich vom Alkohol losgekommen.
    Mittlerweile gefiel ihm die Arbeit hier. Es gefiel ihm, nüchtern zu bleiben. Ihm gefielen die Freunde, die er bei den Treffen der Anonymen Alkoholiker kennengelernt hatte. Die Mönche nannten ihn ihren Majordomus, eine ziemlich hochtrabende Bezeichnung für einen einfachen Hausmeister, aber es verlieh ihm auch eine gewisse Würde.
    Wenn Pater Aiden nicht über diese Moreland reden will, nun, dann soll es so sein, beschloss Neil. Wahrscheinlich hätte es ihn sowieso nicht interessiert, dass ich jemanden gesehen habe, der genauso aussieht wie sie.
    Warum sollten ihn solche Sachen schon kümmern?

24
    Der ältere

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