Ich folge deinem Schatten
Mann, der zaghaft das Büro von Bartley Longe betrat, gehörte ganz offensichtlich nicht zu seinem üblichen Kundenkreis. Das dünne weiße Haar stand nach allen Seiten ab, die Jacke mit dem Aufdruck der Dallas Cowboys war abgetragen, die Jeans schlackerten ihm um die Beine, und an den Füßen trug er alte Turnschuhe. Langsam schlurfte er zum Empfang. Auf den ersten Blick hielt ihn Phyllis, die Rezeptionistin, für einen Kurier. Was sie aber schnell verwarf. Seine hagere Gestalt und die fahle Haut seines faltigen Gesichts ließen darauf schließen, dass er ernstlich krank war.
Sie war froh, dass der Chef mit Elaine, der Sekretärin, und zwei Stoffdesignern in einer Besprechung saß und die Tür zu seinem Büro geschlossen war. Ging es nach Bartley Longe, hätte jemand wie dieser Mann, gleichgültig, was er wollte, in dieser exklusiven Umgebung nichts verloren gehabt. Auch nach sechs Jahren wand sich Phyllis, wenn sie miterleben musste, mit welcher Gefühllosigkeit Longe Menschen behandelte, die einen ärmlichen Eindruck machten. Wie ihre Freundin Elaine blieb auch sie hauptsächlich wegen der guten Bezahlung und weil Longe oft genug fort war, um allen eine kleine Verschnaufpause zu gönnen.
Sie empfing den nervösen Besucher mit einem Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich heiße Toby Grissom. Entschuldigen Sie die Störung, es ist nur, ich hab seit einem halben Jahr von meiner Tochter nichts mehr gehört. Ich kann nachts gar nicht mehr schlafen, weil ich mir Sorgen mache, es könnte ihr was zugestoßen sein. Sie hat vor zwei Jahren hier gearbeitet. Ich dachte mir, vielleicht hat ja jemand im Büro von ihr gehört.«
»Sie hat hier gearbeitet?«, fragte Phyllis und ging in Gedanken die Liste der Angestellten durch, die etwa zwei Jahre zuvor gefeuert worden waren oder gekündigt hatten. »Wie hieß sie denn?«
»Brittany La Monte. Zumindest ist das ihr Künstlername. Sie ist vor zwölf Jahren nach New York gekommen. Wie alle Mädchen wollte sie Schauspielerin werden und hatte hier und da ein paar Off-Broadway-Rollen.«
»Tut mir leid, Mr. Grissom, ich bin jetzt sechs Jahre hier, und ich kann Ihnen mit absoluter Bestimmtheit sagen, dass eine Brittany La Monte bei uns nie gearbeitet hat.«
Als hätte er Angst, kurzerhand weggeschickt zu werden, beeilte sich Grissom zu erklären: »Na ja, sie hat nicht genau hier gearbeitet. Ich meine, sie hat sich ihren Lebensunterhalt als Maskenbildnerin verdient. Mr. Longe hat Brittany gebeten, die Models für die Cocktail-Partys zu schminken, bei denen die Musterwohnungen vorgestellt wurden, die er eingerichtet hat. Und dann hat er sie selbst als Model auftreten lassen. Sie ist ein hübsches Mädchen.«
»Ach, deswegen habe ich sie nie kennengelernt«, sagte Phyllis. »Ich kann Mr. Longes Sekretärin darauf ansprechen. Sie ist bei diesen Apartment-Partys immer dabei, und sie hat ein phänomenales Gedächtnis. Im Moment ist sie leider in einer Besprechung und wird da in den nächsten zwei Stunden auch nicht rauskommen. Können Sie später noch mal vorbeischauen?«
Am besten nach drei Uhr, erinnerte sich Phyllis. Der Tyrann wollte am Abend zu seinem Haus in Litchfield, dafür brach er immer schon nachmittags auf. »Am besten nach drei Uhr, Mr. Grissom.«
»Danke, Ma’am. Sehr freundlich von Ihnen. Verstehen Sie, meine Tochter hat mir immer regelmäßig geschrieben. Vor zwei Jahren hat sie mir gesagt, sie würde auf eine Reise gehen, und mir fünfundzwanzigtausend Dollar geschickt, damit ich was auf der Bank habe. Ihre Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben, und meine Tochter und ich, wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Sie hat mir geschrieben, sie würde sich nicht so oft melden können, aber hin und wieder hat sie mir einen Brief geschickt. Immer in New York abgestempelt, daher weiß ich, dass sie wieder hier sein muss. Aber wie gesagt, jetzt ist ein halbes Jahr vergangen und kein Brief, und ich muss sie einfach sehen. Es ist doch schon vier Jahre her, dass sie zum letzten Mal in Dallas war.«
»Mr. Grissom, wenn wir eine Adresse für Sie haben, verspreche ich Ihnen, dass Sie sie heute Nachmittag bekommen«, sagte Phyllis. Noch während sie es aussprach, war ihr klar, dass es wahrscheinlich keinerlei Rechnungsunterlagen auf den Namen Brittany La Monte geben würde. Longe beschäftigte solche Leute immer schwarz, das kam ihn billiger, als den gewerkschaftlich festgelegten Lohn zu zahlen.
»Ich habe gerade von meinem Arzt nichts Gutes erfahren,
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