Ich folge deinem Schatten
sich sorgen musste, ob sie trotz der Pelzkragenjacke warm genug gekleidet war. Man musste ja Angst haben, dass eine etwas kräftigere Windbö sie vom Bürgersteig weht.
Es klopfte an der Tür. Bevor er darauf reagieren konnte, trat seine Sekretärin Louise Kirk ein. »Darf ich raten?«, sagte er. »Es ist genau neun Uhr.«
Louise, fünfundvierzig Jahre alt, von birnenförmiger Gestalt, mit strubbeligen blonden Haaren, war die Frau eines seiner Bauleiter und die Betriebsamkeit in Person. »Natürlich«, antwortete sie brüsk.
Kevin bereute seine Worte sofort und hoffte bloß, sie würde sich nicht wieder mit Eleanor Roosevelt vergleichen. Unzählige Male hatte Louise, die ein großes Faible für Geschichte hatte, ihm erklärt, dass Eleanor immer auf die Sekunde pünktlich gewesen sei. »Selbst dann noch, als sie die Stufen im Weißen Haus hinunterschritt, um pünktlich zur Zeremonie an Franklin D. Roosevelts Sarg im Ostzimmer zu kommen.«
Heute gingen ihr ganz offensichtlich ganz andere Dinge durch den Kopf. »Haben Sie zufällig schon die Zeitung gelesen?«, fragte sie.
»Nein. Um sieben Uhr war das Frühstücksmeeting angesetzt«, entgegnete Kevin.
»Na, dann sehen Sie sich das mal an.« Sie legte ihm die Morgenzeitungen auf den Schreibtisch, die New York Post und die Daily News, und freute sich unverhohlen darüber, mit spannenden Neuigkeiten aufwarten zu können. Auf beiden Ausgaben prangte ein Bild von Zan Moreland auf der Titelseite. Die Schlagzeilen waren in beiden Fällen gleich reißerisch. Beide behaupteten, Zan habe ihr eigenes Kind entführt.
Kevin starrte ungläubig auf die Fotos. »Haben Sie gewusst, dass ihr Kind vermisst wird?«, fragte er Louise.
»Nein, ich habe ihren Namen damit nicht in Verbindung gebracht«, antwortete Louise. »Natürlich war mir der Namen des Jungen, Matthew Carpenter, ein Begriff. Die Zeitungen waren damals ja voll mit der Geschichte, aber soweit ich weiß, wurde seine Mutter immer nur als Alexandra bezeichnet. Was machen Sie jetzt damit? Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie verhaftet wird. Soll ich ihre Pläne an ihr Büro zurückschicken?«
»Da bleibt uns wahrscheinlich keine andere Wahl«, antwortete Kevin leise und fügte noch hinzu: »Dabei hatte ich mich gerade dafür entschieden, ihr den Auftrag zu geben.«
23
Am Mittwoch nach dem Mittagessen saß Pater Aiden noch in der Klosterküche, sah CNN und trank dazu eine Tasse Kaffee. Aufgewühlt schüttelte er den Kopf, als er nun auch aus dem Mund des Reporters erfuhr, dass Alexandra Moreland ihr eigenes Kind entführt haben sollte. Die Kamera zeigte, wie dieselbe junge Frau, die zu ihm in den Versöhnungsraum gekommen war, das Four Seasons Restaurant verließ. Sie versuchte, als sie an den Reportern vorbei zum Taxi eilte, ihr Gesicht zu verbergen, aber es bestand kein Zweifel: Sie war es.
Dann sah er die Fotos, die eindeutig zu belegen schienen, dass sie den kleinen Matthew gekidnappt hatte.
Ich bekenne, an einem Verbrechen und an einem Mord mitzuwirken, der sehr bald geschehen wird, hatte sie gesagt.
Meinte sie mit dem Verbrechen, dass sie ihren eigenen Sohn entführt und dann die Behörden über dessen Verschwinden belogen hatte?
Pater Aiden sah, wie sich der Nachrichtenmoderator mit June Langren, die im Four Seasons ebenfalls zu Abend gegessen hatte, über Ted Carpenters Wutanfall unterhielt. »Ich habe ehrlich gedacht, er würde auf sie losgehen«, sagte Langren völlig außer Atem. »Mein Begleiter ist schon aufgesprungen, um ihn, falls nötig, zurückzuhalten.«
Pater Aiden hatte gedacht, dass er in den fünfzig Jahren, in denen er nunmehr die Beichte abnahm, von so ziemlich jeder Missetat gehört hatte, derer die menschliche Natur fähig war. Vor vielen Jahren hatte er dem herzzerreißenden Schluchzen einer jungen Frau gelauscht, die, selbst fast noch ein Kind, ein Baby zur Welt gebracht und es aus Angst vor ihren Eltern in einem Müllsack gesteckt hatte, um es sterben zu lassen.
Das Kind aber war Gott sei Dank nicht gestorben. Ein Passant hatte die Schreie des Babys gehört und es gerettet.
Hier aber lag der Fall anders.
Ein Mord, der sehr bald geschehen wird.
Sie hatte nicht gesagt, den ich bald begehen werde, dachte Pater Aiden. Sie bezeichnete sich nur als Mitwirkende, als Komplizin eines Verbrechens. Nachdem diese Fotos nun beweisen, dass sie ihren Sohn entführt hat, wird ihr Mittäter, wer immer es sein mag, vielleicht abgeschreckt. Ich kann nur beten, dass dem so sein
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