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Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)

Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)

Titel: Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Stratenwerth , Reinhard Berkau
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Bundesstaaten fällt die Strafe dann regelmäßig doppelt so lang aus («Two Strikes»): Das gilt sogar dann, wenn die zweite «Tat» Jahrzehnte nach der ersten geschieht und einen völlig anderen Hintergrund hat. Wer zum Beispiel schon einmal als jugendlicher Verkehrssünder bestraft wurde, muss auch dann mit härteren Konsequenzen rechnen, wenn er 30 Jahre später eine Unterschrift fälscht. In vielen Bundesstaaten, und mit besonderer Härte in Kalifornien, gilt das Prinzip «Three Strikes»: Wer sich zum dritten Mal strafbar macht, kann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden – auch bei Scheckbetrug, Autoaufbrüchen oder Kaufhausdiebstahl. Das Strafmaß ist für alle Straftaten in den USA in den vergangenen Jahrzehnten drastisch gestiegen und liegt heute etwa drei- bis viermal höher als in Deutschland.
    3207 Strafgefangene in den USA sind zum Tode verurteilt (Stand: Ende 2008) und sitzen auf Death Row ; 52-mal wurde die Todesstrafe 2009 exekutiert.
    Nicht die Kriminalitätsrate ist in den USA besonders hoch, sondern die Kriminalisierungsrate, darauf haben Kritiker des Strafjustizsystems immer wieder hingewiesen. Die Zahl der Gewaltdelikte begann bereits zu sinken, als die Inhaftierungsrate zu steigen begann. Und nur an dieser Zahl lässt sich überhaupt ablesen, wie hoch das kriminelle Potenzial bzw. das Schutzbedürfnis einer Gesellschaft ist, das polizeiliches und gerichtliches Eingreifen erfordert. Die Zahl vieler anderer Straftatbestände – Eigentumsdelikte, Schwarzfahren, Betrug, Drogenkriminalität, Wehrdienstverweigerung, Volksverhetzung, Sexualstraftaten oder die Störung der öffentlichen Ordnung – ist hingegen abhängig davon, was eine Gesellschaft verbietet, als kriminell definiert oder toleriert und inwieweit sie Straftaten vielleicht sogar provoziert.
    Und wer sitzt hinter Gittern? Sehr viel mehr Männer als Frauen – wobei der Anteil der weiblichen Gefangenen seit einiger Zeit ansteigt. Sehr viel mehr Schwarze als Latinos und mehr Latinos als Weiße. Das absolut höchste Risiko, im Gefängnis zu sitzen, haben junge schwarze Männer im Alter von 20 bis 34 Jahren. Einer von neun dieser Bevölkerungsgruppe sitzt in einer Strafanstalt. Einer von dreien steht unter Kontrolle des Strafjustizsystems. (Siehe auch Graphiken im Anhang.)

6
    Auf der infirmary herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Viele Gefangene wurden nur für wenige Tage hierher verlegt, um eine Verletzung oder akute Krankheit auszukurieren. Andere kamen direkt von der Straße: Alkoholiker und Obdachlose, die unsere Abteilung füllten, seit die Nächte in Florida kälter wurden.
    So war die Krankenstation im Knast permanent überbelegt. Wer keins der rund 25 Betten mehr abbekam, wurde in einem der blauen boats einquartiert, die überall auf den Gängen, im Gemeinschaftsraum und in den Zellen herumstanden: Kunststoffwannen, in denen die üblichen Plastikmatratzen lagen, und darin meist ein ziemlich verwahrloster oder schwer gestörter Mann mitten im Alkoholentzug. Die Schließer reagierten auf die drangvolle Enge, indem sie immer häufiger Einschluss für die gesamte infirmary verfügten. Das bedeutete: Keine Freistunde auf dem Hof, kein Zugang zum Gemeinschaftsraum, kein Fernsehen, keine Möglichkeit zu telefonieren. Und zum Duschen kamen wir bestenfalls alle zwei Tage.
    In den sechs Einzelzellen, die rund um den Gemeinschaftsraum angeordnet waren, waren diejenigen Gefangenen eingeschlossen, die man für gewalttätig oder selbstmordgefährdet hielt. Manche von ihnen schrien die ganze Nacht – ein hilfloser, quälender Ausdruck von Wut, die kein anderes Ventil fand. Oft lag ich stundenlang wach, weil mich ihr Gebrüll nicht zur Ruhe kommen ließ.
    Als wären die ständige Unruhe im ganzen Gebäude und die Schlafgeräusche meiner Zellengenossen noch nicht genug, wurde die kurze Nachtruhe auch noch ständig durch die guards unterbrochen. Wenn sie nicht zum Durchzählen der Häftlinge oder zur Durchsuchung der Zelle auftauchten, so kamen sie manchmal mitten in der Nacht mit Rasierzeug herein: Wer sich rasieren wollte, konnte das nur nach Mitternacht tun. Dafür musste natürlich das Licht angemacht werden, und alle Mitbewohner der Zelle waren ebenfalls um ihre Nachtruhe gebracht.
    Ich spürte, wie mich der ständige Schlafentzug zu zermürben begann. Einen Menschen dauerhaft an der Einhaltung ausreichend langer Schlafphasen zu hindern gilt als Folter, das wusste ich, und mir war nicht ganz klar, ob das hier

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