Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
Gefährt nutzte er regelmäßig, um bei den gemeinsamen Mahlzeiten Essensvorräte mitgehen zu lassen. In unserer Zelle teilte er seine Beute großzügig mit jedem, der daran teilhaben wollte. Habib war Pakistani und seit einem guten Jahr in Haft. Er hatte einen schweren Autounfall überlebt, den er angeblich in der Absicht herbeigeführt hatte, sich selbst und seine Geliebte zu töten.
Von Rocky, unserem fünften Mitbewohner, bekamen wir nicht viel mit. Er schlief fast den ganzen Tag, weil er mit Medikamenten ruhiggestellt wurde. Ich vermutete, dass es sich um eine Schmerztherapie handelte. Er war um die fünfzig, Amerikaner mit italienischen Vorfahren, und offensichtlich schwerkrank. Wenn er ausnahmsweise einmal wach war, spielt er mit uns spade , eine vereinfachte Skatvariante. Rocky war ein ausgezeichneter Spieler.
Martino erzählte mir auch, warum er seit gut anderthalb Jahren im Knast saß. Er war gebürtiger Brasilianer, von Beruf Pilot und Flugunternehmer, und für seine Tat war er in den Medien zeitweise als Held gefeiert worden: Er hatte ein fünfjähriges Mädchen gekidnappt. Die Großeltern des Kindes hatten ihn um Hilfe gebeten: Das Kind lebte erst seit kurzem bei seiner Mutter, einer drogenabhängigen Frau, die in der Sexbranche arbeitete. Diese war, zumindest sah es die Familie so, mit der Betreuung ihrer Tochter völlig überfordert; außerdem deutete das Kind an, dass es vom Freund der Mutter belästigt würde.
Dass er sich strafbar machen würde, darüber hatte Martino offenbar nicht einmal nachgedacht: Er verkleidete sich als Polizist, fuhr zu der jungen Frau und drohte, sie wegen Drogenbesitz zu verhaften, wenn sie ihre Tochter nicht gehen ließ. Der Plan ging auf, er konnte das Mädchen mitnehmen und brachte es zu dessen Großeltern. Wenige Tage später wurde er verhaftet.
Seitdem saß er im Broward County Jail , ohne Anklage und ohne Urteil, aber er hatte Hoffnung: Sein Anwalt verhandelte mit der Staatsanwaltschaft und wollte ihn in wenigen Monaten freibekommen. Fast täglich telefonierte Martino mit seiner Freundin, die draußen seine Geschäfte weiterführte. Er freute sich darauf, bald wieder zu Hause zu sein.
Noch ahnte er nicht, welches Urteil ihn wirklich erwartete.
Auch meine Verteidigerin stand in Verhandlungen mit dem Ankläger. Mitte Februar überreichte mir Jeanne Baker bei einem ihrer Besuche zwei mehrseitige Schriftsätze. «Das ziehen Sie bitte gar nicht erst in Erwägung», erklärte sie dazu.
Plea offer stand über den beiden Dokumenten. Unterschrieben waren sie von Staatsanwalt Chris Clark, und es war leicht zu erkennen, dass sie im Wesentlichen aus vorgefertigten Textbausteinen bestanden.
Mir wurde ein Handel vorgeschlagen, ein plea bargain , auch plea agreement genannt. Ich sollte mich einer Erpressung oder jedenfalls des Versuches dazu schuldig bekennen. Eine nähere Prüfung der Tatvorwürfe würde dann nicht mehr stattfinden. Mein Geständnis würde sich mildernd auf das Strafmaß auswirken. Wie meine Strafe ausfallen würde, konnte ich dem Papier nicht entnehmen, aber Jeanne Baker rechnete es anhand der Ausführungen des Staatsanwaltes für mich aus: Sie kam auf eine Haftstrafe von 48 Monaten. Das Papier brachte allerdings auch zum Ausdruck, dass das Gericht, auch wenn ich bereits unterschrieben hatte, in keiner Weise an diesen Handel gebunden war. Die Staatsanwaltschaft hatte gleich zwei Versionen vorbereitet: die eine für den Fall, dass ich bereit war zu «kooperieren», also andere zu belasten. Die andere, falls ich nicht aussagen wollte.
Mich zu einer Straftat bekennen, die ich nicht begangen hatte? Das kam für mich überhaupt nicht in Frage. Meine Mitgefangenen aber verblüffte es, dass ich ernsthaft bereit war, diesen Deal auszuschlagen. «You go to trial?», – du gehst vor Gericht? – fragten sie immer wieder ungläubig. Schließlich war bekannt, dass die Strafe, die man zu erwarten hatte, in der Regel um einiges höher ausfiel, wenn man ein solches Angebot erst einmal ausgeschlagen hatte.
Plea Bargaining oder: Ein Schnäppchen vom Staatsanwalt
Plea bargain bedeutet laut Wörterbuch «Vereinbarung im Strafverfahren». Das Wort bargain kann man aber auch mit «Sonderangebot» oder «günstige Gelegenheit» übersetzen. Tatsächlich werden in den USA heute rund 90 Prozent der Strafverfahren mit einem plea bargain (offiziell: plea agreement ) beendet, mit einem angeblichen Schnäppchen vom Grabbeltisch der Staatsanwaltschaft. Ohne plea bargaining
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