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Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)

Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)

Titel: Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Stratenwerth , Reinhard Berkau
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wären die amerikanischen Gerichte mit der Durchführung von Strafprozessen so überlastet, dass das Justizsystem kollabieren würde.
    Es gibt diese Form des Aushandelns von Urteilen in Strafverfahren schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts in den USA, doch lange fanden sie einer rechtlichen Grauzone statt. Erst 1970 erklärte der Supreme Court – der Oberste Gerichtshof der USA – das guilty plea eines Angeklagten und seine Folgen zum regulären Bestandteil der Rechtsprechung. Damit wurden alle Schleusen zu einer Art Schnellgerichtsbarkeit geöffnet: Wer ein plea agreement abschließt, tritt vor einen Einzelrichter, wird dort über seine Rechte belehrt, legt ein sogenanntes Geständnis ab und bekommt eine Strafe zugemessen. An den Wahrheitsgehalt dieses Schuldbekenntnisses werden kaum irgendwelche Anforderungen gestellt, andere Beweise oder Zeugenaussagen spielen in dem Verfahren überhaupt keine Rolle mehr.
    Die ohnehin schon große Macht der Staatsanwälte in den USA wird mit diesem Instrument auf die Spitze getrieben – die Ankläger können, quasi nach Belieben, mit dem Beschuldigten aushandeln oder eigenmächtig entscheiden, welche Tatvorwürfe sie erheben und welche nicht. Dabei geht es nicht selten um Leben und Tod: Ein Angeklagter, dem die Todesstrafe droht, kann versuchen, sein Leben zu retten, indem er sich nicht des Mordes, aber der «einfachen Tötung» (manslaughter) für schuldig bekennt. Für eine solche Tat geht er dann «nur» lebenslänglich ins Gefängnis. Ob ein Unschuldiger hinter Gittern sitzt und der wahre Täter noch frei herumläuft, interessiert nach Abschluss dieses Handels niemanden mehr. Es ist möglich und auch schon vorgekommen, dass ein plea agreement mit einem Angeklagten abgeschlossen wurde, der sich einer Tötung schuldig bekannte, zugleich aber erklärte, er sei nicht der Todesschütze gewesen.
    Fatalerweise haben fast alle Beteiligten im Justizsystem ein Interesse daran, Strafverfahren auf diese Art und Weise zu beschleunigen und abzuschließen. Für den Staatsanwalt, dessen beruflicher Erfolg in den USA unmittelbar an der Zahl der «gewonnenen» Verfahren gemessen wird, gilt ein abgeschlossenes plea agreement als Sieg. Ihm bleibt ein langes Verfahren, die mühsame Beweisführung und das Risiko eines Freispruchs durch die Jury erspart. Ein Strafverteidiger, der als Honorar oft eine pauschale Summe mit seinem Mandanten vereinbart hat, spart durch einen plea bargain viel Zeit. Und die Gerichte sind ohnehin völlig überlastet. Der Beschuldigte oder auch nur Tatverdächtige aber trägt das volle Risiko: Entscheidet er sich für den Strafprozess, kann dieser mit einem Freispruch durch die Jury enden – oder dem Schuldspruch und einer oft drakonischen Freiheitsstrafe. Mit dem plea agreement wird der Preis berechenbar, doch er zahlt ihn möglicherweise für eine Tat, die er (so) nie begangen hat.
    Welches Risiko Angeklagte eingehen, die auf einem Gerichtsverfahren bestehen, zeigt der Fall eines Mannes, der wegen Scheckbetruges angeklagt war. Es ging um eine Schadenssumme von 88   Dollar. Der Staatsanwalt hatte ihm angeboten, im Rahmen eines plea bargain eine Haftstrafe von fünf Jahren zu akzeptieren. Andernfalls, so seine Drohung, würde er den bereits zwei Mal Vorbestraften als Gewohnheitsverbrecher anklagen. Der Angeklagte nahm den Handel nicht an – und wurde in einem Jury-Prozess schließlich zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Der Oberste Gerichtshof der USA hat die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens bestätigt.

7
    «Mit ihrem Strafjustizsystem wollen die US-Amerikaner keineswegs nur ‹abstrafen›, statt erzieherisch zu wirken, damit wollen sie Existenzen und Familien zerstören und tun das auch recht erfolgreich», schrieb ich einmal an einen Freund. «Je niedriger jemand im sozialen Gefüge steht, desto anfälliger ist er dafür. Diese Leute werden total entwurzelt. Hiervon eine Ausnahme machen nur diejenigen, die bereits entwurzelt sind, also nicht mehr im sozialen Gefüge stehen. Das sind vor allen Dingen die Leute, die als Alkoholiker (meistens) auf der Straße leben. Im Broward County Jail auf der infirmary habe ich sie ja erlebt. Wenn das Wetter schlechter wurde, kamen von diesen Leuten mehr in den Knast. Nicht etwa, weil die Cops Samariter spielen, sondern weil die Jungens wissen, was sie machen müssen, um für ein paar Wochen ein festes Dach über dem Kopf zu bekommen, und weil sie wissen, dass sie dann wieder rausgeworfen werden. Das sind

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