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Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)

Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)

Titel: Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Stratenwerth , Reinhard Berkau
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dann sprechen sie ihn frei; immer wenn du denkst, sie müssen den Angeklagten freisprechen, sprechen sie ihn schuldig.
    Ich habe weder gegen deutsche noch gegen amerikanische Gesetze verstoßen. Nur kommt es auf diesen Satz vor dem geschilderten Hintergrund in keiner Weise an, und das muss man erst einmal begreifen. Wer hier an Gerechtigkeit glaubt, ist verloren. Dazu kommt jetzt noch – insbesondere in Florida –, dass auch das Strafmaßsystem mit dem unsrigen nicht zu vergleichen ist. Grober Anhaltspunkt: Das, was ein deutsches Gericht verhängen würde, muss man mit dem Faktor 3 multiplizieren.»
    Ich schrieb solche und ähnliche Sätze in vielen Briefen an Freunde und Angehörige nach Hause. Diese Gedanken immer wieder zu Papier zu bringen half mir zu verarbeiten, was mit mir passiert war. Ich hatte inzwischen genug gesehen und erlebt, um zu wissen, dass ich vorsichtig sein und mit allem rechnen musste. Oft genug passierte es, dass Mitgefangene sich während ihrer Inhaftierung weitere Strafen, etwa wegen angeblicher Fluchtversuche oder Falschaussagen, einhandelten. Nur wenn ich meinen Verstand, meine Gefühle und meine fünf Sinne beisammenhielt, hatte ich eine Chance, hier irgendwann wieder rauszukommen.

20
    Es war der Sommer, in dem in Deutschland die Fußball-WM stattfand und plötzlich alle Welt Sudokus löste. Von beidem schwappte auch etwas in meine Gefängniszelle im Broward County Jail. Mittlerweile war ich fast ein halbes Jahr in Haft. Die ersten Sudokus schickte mir eine meiner Töchter, wie immer in Briefform. Sie hatten mich schon vorher mit verschiedenen Knobeleien versorgt, die mir halfen, mich abzulenken und meine Gedanken auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Mit wachsender Leidenschaft begann ich jetzt die Zahlenrätsel zu knacken, und bald war mir kein Level mehr zu schwer. Ich entdeckte, dass Sudokus auch in den zerfledderten Lokalzeitungen zu finden waren, die gelegentlich im Gemeinschaftsraum des Broward County Jail auslagen.
    Über die Fußball-WM erfuhr ich aus den amerikanischen Zeitungen und TV-Programmen nur wenig. Aber viele Freunde berichteten in ihren Briefen darüber. In Deutschland herrschte wochenlang Partystimmung, und alle freuten sich darüber, dass plötzlich eine neue Form des Patriotismus, ganz ohne nationalistische Züge, möglich geworden war. Selbst einer meiner altlinken Freunde gestand mir, dass er eine Deutschlandfahne aus seinem Fenster gehängt habe. Nach dem Viertelfinale Deutschland gegen Argentinien, das «wir» nach dramatischem Spielverlauf in der Verlängerung gewannen, konnte ich mit einem meiner Söhne telefonieren und bekam einen genauen Bericht über das Spiel.
    In Hamburg geschah in jenen letzten Junitagen des Jahres 2006 noch etwas anderes, was uns allen das Leben ein bisschen leichter machte: Nach schleppenden Verhandlungen hatten Jan Jütting und meine Töchter den Verkauf einer Immobilie erfolgreich abgeschlossen. Die akuten Liquiditätsprobleme in meiner Kanzlei waren damit erst einmal gelöst. Wenige Tage später kam die nächste gute Nachricht: Wir hatten das Verfahren gegen Carl F. auch vor dem Oberlandesgericht gewonnen. Noch einmal hatte mir also ein deutsches Gericht bestätigt, dass ich mit einem legal claim nach Florida gekommen war und deshalb überhaupt kein Erpresser sein konnte. Dieses Urteil hatten wir unbedingt abwarten wollen, bevor der Termin für das sentencing , für die Festlegung meines Strafmaßes, stattfand. Deshalb hatten wir selbst einen Aufschub in diesem Verfahren beantragt.
    Mit der Telefonverbindung nach Deutschland gab es immer wieder Probleme. Oft blieben mir nur die Briefe. Manchmal schrieb ich Dutzende Seiten an einem Tag. Ich notierte penibel jede Sendung, die bei mir eintraf, in einem Posteingangsbuch. Damit wollte ich nicht nur überprüfen, ob mir meine Post im Gefängnis vollständig zugestellt wurde. Ich brauchte diese Kontrolle auch zur Beruhigung meiner eigenen Nerven: So konnte ich schwarz auf weiß nachlesen, wer mir wann zuletzt geschrieben hatte. Diese Post aus Deutschland hielt mich im wahrsten Sinne des Wortes am Leben, und darauf zu antworten war die sinnvollste Möglichkeit, meine Tage zu füllen.
    Manchmal habe ich meine Angehörigen mit meinem Bedürfnis, den Überblick über alle Aktivitäten in Hamburg zu behalten, wohl auch ziemlich genervt. In meinen Briefen finden sich Listen von bis zu 40 Einzelpunkten, die sie erledigen oder beantworten sollten. Und gelegentlich erntete ich dafür ein

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