Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
einverstanden gewesen. Jeanne Baker machte nun nach allen Regeln der Kunst klar, warum der Strafrahmen deutlich niedriger liegen müsste, nämlich zwischen 37 und 43 Monaten.
Aber auch diese Strafe, meinte meine kämpferische Anwältin, sei in meinem speziellen Fall noch viel zu hoch. Dabei berief sie sich auf ein Urteil, das in der amerikanischen Justiz Rechtsgeschichte geschrieben hat: Im Jahr 2005 hatte der Supreme Court in einem Strafverfahren gegen einen Angeklagten namens Booker entschieden, dass die bisher verbindlichen Strafmaß-Richtlinien mit der amerikanischen Verfassung unvereinbar seien. In speziellen Fällen dürfen die Gerichte diese Richtlinien mit der Berufung auf Booker seitdem auch über- oder unterschreiten. Solche Gesichtspunkte, so trug Jeanne Baker vor, bestanden in meinem Fall in meinem Alter, in meinem gesundheitlichen Zustand und in der Tatsache, dass ich als Ausländer in den USA nicht in den Genuss von Rehabilitationsprogrammen kommen würde. Und natürlich auch in dem Umstand, dass selbst der Richter erheblich daran zweifelte, ob ich überhaupt eine Straftat begangen hatte. Meine Verteidigerin zitierte Dutzende Gerichtsurteile, bei denen es unter solchen Umständen zu einer drastischen Verkürzung der Strafe gekommen war.
Unter Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte schlug sie eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun bis zehn Monaten vor. Danach wäre ich in wenigen Wochen frei! Eigentlich hatte ich mir, während ich auf das sentencing wartete, jede Spekulation darauf verboten, dass meine Entlassung in greifbare Nähe rücken könnte. Aber als ich diesen Schriftsatz von Jeanne Baker im Broward County Jail zum ersten Mal las, fing ich doch wieder an – zu hoffen.
Zur Verhandlung am 10. August 2006 trafen wir alle wieder in dem inzwischen vertrauten Gerichtsgebäude in Fort Lauderdale zusammen, das nur wenige hundert Meter vom Broward County Jail entfernt liegt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch einmal in diesem schlimmen Knast ausharren müssen.
Inzwischen kannte ich all das ja schon: dass ich in Ketten gelegt wurde, dass man mich in diesen seltsamen Tiertransporter bugsierte und zum Gericht fuhr, wo ich in einer Arrestzelle erst einmal stundenlang warten musste. Irgendwann wurde ich dann in den Gerichtssaal geführt und konnte auf der Anklagebank zwischen meinen beiden Verteidigern Jeanne Baker und Jan Jütting Platz nehmen. Heute, das wussten wir alle, würde sich entscheiden, wie mein Leben weiterging. Und auch das Leben in Hamburg, in meiner Kanzlei und in der Familie. Sieben Monate lang hatte Jan Jütting, zusammen mit meinen Töchtern, rund um die Uhr gearbeitet, um das Büro aufrechtzuerhalten, mich als Arbeitgeber gegenüber unseren Mitarbeitern zu vertreten, die finanziellen Belange der Immobilienverwaltung in den Griff zu bekommen und meine Verteidigung zu organisieren. Auch für sie würde sich an diesem Tag endlich entscheiden, ob sich all das gelohnt hatte: ob ich in absehbarer Zeit nach Hause zurückkehren würde und das Anwaltsbüro Berkau weiter existieren könnte.
Am Vormittag lief es nicht wirklich gut für uns. Richter William Dimitrouleas wirkte desinteressiert, stellte kaum Fragen und machte mit verschiedenen Bemerkungen deutlich, dass er überhaupt keinen Grund für eine downward departure sah. Ich wusste, dass der Staatsanwalt mich für über sechs Jahre im Gefängnis sehen wollte, und meine Hoffnung auf eine mildere Strafe schwand immer mehr. Auch Jeanne Baker und Jan Jütting wirkten bedrückt und sehr besorgt.
Am Nachmittag drehte sich das Blatt, und zwar ausgerechnet in dem Augenblick, als Chris Clark begann, die verlangten 78 Monate zu begründen. Der Richter ließ den prosecutor kaum ausreden und stellte eine kritische Frage nach der anderen. Danach hatte Jeanne Baker die Möglichkeit zu erwidern. Endlich einmal hatte die Verteidigung das letzte Wort, und nicht, wie es im Strafprozess der Fall gewesen war, der Ankläger. «Ich habe sie noch nie so gut erlebt wie in diesen Minuten!», schrieb ich ein paar Tage später an einen Freund. «Getragen von dem Wissen und der tiefen Überzeugung meiner Unschuld nahm sie Stück für Stück alles auseinander, was nicht für eine Herabsetzung des Strafmaßes hätte sprechen können. Sie war wirklich beeindruckend, ich habe gehört, dass auch die im Saal anwesenden marshals die Augenbrauen hochgezogen haben. Zu etwa diesem Zeitpunkt habe ich mich dann getraut, meine Prognose auf den vor mir liegenden Zettel
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