Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz (German Edition)
Kleinstädten, aus denen sich vorher alle größeren Industriebetriebe verabschiedet hatten. Dennoch platzen die Knäste aus allen Nähten: Auf 84 000 Haftplätze, so stellte ein Gerichtsurteil fest, kommen 158 000 Häftlinge (die absolute Zahl der Gefängnisinsassen in Kalifornien liegt noch höher). Dem Bundesstaat ist die Finanzierung vollständig über den Kopf gewachsen. Die Gefangenen werden in riesigen Schlafsälen, auf Matratzenlagern und in Turnhallen zusammengepfercht.
Zwei kalifornische Strafgefangene führten schließlich eine jahrelange gerichtliche Klage gegen diese Verhältnisse und argumentierten vor allem mit ihrer schlechten gesundheitlichen Versorgung. Im August 2009 entschieden drei Bundesrichter, dass die Überbelegung der Gefängnisse auf 137 Prozent zu begrenzen sei. Gouverneur Arnold Schwarzenegger wurde beauftragt, ein Konzept zu entwickeln, nach dem innerhalb von zwei Jahren insgesamt 43 000 Häftlinge aus den kalifornischen Knästen entlassen werden müssen.
Der Gouverneur von Kalifornien ist gegen dieses Urteil beim Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof der USA, in Berufung gegangen. Gut für Unternehmen wie die CCA, GEO Group Inc. und die Cornell Companies, die in Kalifornien bereits 15 private Gefängnisse betreiben. Im Frühjahr 2009 stellte die CCA das La Palma Correctional Center in Arizona fertig und übergab es seinem Bestimmungszweck – 3060 neue Haftplätze, vorgesehen zur ausschließlichen Unterbringung von kalifornischen Strafgefangenen.
Die Chance zum Einstieg in den Ausstieg aus dem Projekt mass incarceration wurde in Kalifornien verpasst. Die Wahnsinnsspirale von wachsendem Angebot, wachsender Nachfrage und hemmungsloser Ausbeutung der Steuerzahler dreht sich weiter.
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Ich verbrachte insgesamt acht Monate in der Correctional Institution Reeves, und wahrscheinlich war es gut, dass ich nicht von vornherein wusste, wie lange ich hier noch warten musste. Denn das war es, was ich in dieser Zeit vor allem tat: warten. Ich wartete auf meine Überstellung nach Deutschland, das heißt auf die Erledigung vieler verschiedener bürokratischer Schritte und Entscheidungen, die das Treatytransfer- Verfahrenverlangt. Ich wartete auf die Zustimmung der deutschen Regierung, ich wartete auf die Stellungnahme des Anklägers Christopher Clark, ich wartete auf das Votum der amerikanischen Justizbehörden – und am Ende musste ich noch darauf warten, dass ich selbst vor einem amerikanischen Richter meiner Rückkehr nach Deutschland zustimmen durfte.
Mir war klar, dass jeder einzelne dieser Schritte Wochen in Anspruch nehmen würde, und so rechnete ich damit, nicht vor August nach Hamburg zu kommen. Dann aber würde ich achtzehneinhalb Monate, die Hälfte der im sentencing festgelegten Strafe, abgesessen haben. Nach deutschem Recht könnte ich zum Zeitpunkt der «Halbstrafe» sofort auf Bewährung freigelassen werden.
Ich beschäftigte mich damit, vorsichtig Bilanz zu ziehen, was in anderthalb Jahren im Gefängnis mit mir passiert war, ich freute mich unbändig auf zu Hause und war voller Pläne. Aber noch vertraute ich nicht darauf, dass mein treaty transfer bewilligt und zügig abgewickelt würde. Ich hatte inzwischen von Ausländern gehört, die über Jahre in amerikanischen Abschiebeknästen einfach «vergessen» wurden. Ich musste noch immer kämpfen und mit allem rechnen.
Der körperliche Zusammenbruch, den ich kurz nach meiner Verurteilung Ende April 2006 im FDC Miami erlebt hatte, lag nun gut ein Jahr zurück. Diesmal war es nicht mein Körper, sondern mein Geist, der mir signalisierte, dass ich die Anspannung nicht mehr unter Kontrolle hatte. Plötzlich beobachtete ich an mir selbst eine eigentümliche Zerstreutheit. Ich vergaß meine Lesebrille in der Zelle, wenn ich mit einem Buch nach draußen auf den Rec Yard ging. Ich verlor kurz nacheinander zwei Kugelschreiber. Ich ließ eine Rolle Klopapier auf der Toilette liegen. Mir entfiel der Termin für meinen Computerkurs. Ich versäumte es, eine Gitarre, die ich mir ausgeliehen hatte, abends rechtzeitig zurückzugeben. Kleine Nachlässigkeiten, denen man in einer anderen Art von Alltag vielleicht keine große Bedeutung beimessen würde. Doch hier, im Gefängnis, wo nichts wichtiger war, als die paar Dinge, die man besaß, im Griff zu behalten, waren solche Details existenziell. Jedes kleine Versäumnis konnte äußerst unangenehme Konsequenzen haben: Es dauerte bis zu zehn Tage, bis man aus der commissary neue
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