Ich gegen Osborne
unweigerlich Kontakt zu meinem Kopf auf, entweder versehentlich, oder weil er absichtlich geworfen wurde.
Niemand bemerkte mein Eintreten. Ich näherte mich der maskulinen, schon etwas älteren Mrs. Reiher mit ihrem charakteristischen Bleistift hinter dem Ohr. Sie übte außerdem gerade Kontaktpflege mit ihren Schülern. Zwei Basketball- und ein Footballspieler, ausnahmslos wirklich nette Burschen, auch wenn sie bei Tests schummelten, lungerten um ihren Schreibtisch herum. Mrs. Reiher befragte sie täglich nach den Chancen ihrer Mannschaften für das kommende Jahr.
Als einer der Basketballer sah, dass ich auf die Gelegenheit zu sprechen wartete, verstummte er und fragte: »Was gibt’s, James?«
[187] »Verzeihung«, sagte ich und reichte Mrs. Reiher meinen Passierschein. »Ich komme zu spät, weil ich mit dem Rektor gesprochen habe.«
»In Ordnung. Den brauche ich nicht.« Sie gab mir den Schein zurück. »Der Unterrichtsstoff und Ihre Aufgabe stehen an der Tafel. Wenn Sie Fragen haben, lassen Sie’s mich wissen.«
»Danke.«
Und das war’s. Ich setzte mich, schlug mein Algebrabuch auf und begann die quadratischen Gleichungen, die an der Tafel standen, in mein Heft abzuschreiben.
In Mrs. Reihers Kurs lief jeder Tag gleich ab. Sie unterrichtete zehn Minuten lang, schrieb zwei oder drei Fallbeispiele an die Tafel, gab uns dann eine Hausaufgabe, setzte sich an ihren Schreibtisch und unterhielt sich während der restlichen Unterrichtszeit mit unseren Sportlern. Die Aufgabe war kurz, daher herrschte in ihrem Kurs immer schnell ein nervtötendes Chaos, so wie auch jetzt. Mrs. Reiher war ein netter Mensch, doch ihr Kurs war im Grunde nichts weiter als eine Art geselliges Beisammensein mit ein paar Minuten Mathe am Anfang.
Ich schrieb die drei Beispiele in mein Heft und begann mit der Hausaufgabe, doch das Tohuwabohu um mich herum verhinderte, dass ich mich konzentrieren konnte, und all die x, b und c schienen mich obendrein zu verspotten. Ich beschloss, die Hausaufgaben zu Hause zu erledigen.
Von den morgendlichen Ereignissen verwirrt, hatte ich sowohl vergessen, mir ein Buch zum Lesen als auch mein Deutschheft mitzubringen, und stand nun vor dem Problem, dass ich nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte. [188] Ich entschied, in mein Notizbuch zu zeichnen. Da ich nicht recht wusste, was ich zeichnen wollte, ließ ich dem Stift einfach freien Lauf, so ähnlich wie bei der Schnellschreibübung, die wir bei Slim absolviert hatten. So schnell es ging, kritzelte ich los, während das Teenagergemurmel über mir hing wie ein gebrauchtes Kondom.
»Er hatte diese komische Angewohnheit, die Beine von Leuten zu bespringen«… »Ich respektier dich wahnsinnig, Alter«… »Wo studierst du nächstes Jahr?«… »Er und ich waren mit dem Geländewagen im Matsch unterwegs«… »Scheiße, ja, da würd ich nicht nein sagen«… »Mit wem gehst du auf den Ball?«… »Dann zog er seinen Finger raus, rieb ihn an der Wand«… »Was macht ihr so nach dem Ball?«… »Ich hätte nie gedacht, dass sie so wäre, aber sie hat mit jedem gevögelt, der nicht bei drei auf den Bäumen war«… »Vermutlich gehn wir zu Lauren nach Hause. Sie hat bestimmt Bierfässer da«… »Meine Mom zahlt meine Studiengebühren nicht, weil sie mich und diesen Typ, Schafer, in ihrem Bett erwischt hat«… »Der Film war Ungeküsst, aber wir haben nicht viel davon mitgekriegt«
Als ich mich aufrichtete, sah ich, dass ich ein Wesen mit Penisnase und Vaginamund gemalt hatte, halb Harpyie, halb Mammut und komplett hirntot.
Ich versuchte, mich auf die Gespräche zu konzentrieren, doch die vielen Wörter vermischten sich und führten bei mir zu Übelkeit. Mir ging es nicht gut. Meine Füße taten weh, weil ich mir für Krankenbesuche und Beerdigung neue Abendschuhe gekauft hatte, die noch nicht genug geweitet waren; und egal, wie ich mich hinsetzte, meine Hämorrhoiden jagten permanent ihre speziellen Schmerzen [189] durch meinen Körper; außerdem drückte mein leerer Magen; beide Daumen waren vom ständigen Pulen wund; zwei Fingerkuppen pochten wegen der Verbrennung, und ich hatte Kopfweh.
Der Kurs dauerte noch etwa zehn Minuten. Ich beschloss, den Kopf aufs Pult zu legen. In meinen vier Jahren auf Osborne hatte ich das noch nie getan, weil ich es für kindisch und schwach hielt, doch ich war der Meinung, zehn Minuten Ruhe wären keine große Sünde. Ich schob mein Lehrbuch in die Ablage unter meinem Pult und bettete den Kopf
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