Ich geh jetzt in dein Karma rein
Prognosen und so …«
Julia: »Nein, das meine ich nicht. Ich dachte mir, wenn ich es schaffe, eine persönliche Ebene zu den Anrufern aufzubauen und sie mich eher wie eine Freundin ansehen und mehr als nur eine Beraterin, dann könnte es klappen.«
Ich: »Was klappen?«
Julia: »So viele Anrufe zu bekommen, dass ich damit Geld verdienen kann.«
Sie redete offensichtlich um den heißen Brei herum.
Ich: »Und von welchem Geheimnis hast du vorhin gesprochen?«
Julia seufzte.
Julia: »Du wirst bestimmt total schlecht von mir denken, wenn ich es dir sage. Na gut, ich habe den Kunden erzählt, dass ich schwer krank bin und nicht mehr lange zu leben habe. Konkretes habe ich nicht erwähnt, denn das hat schon völlig ausgereicht. Viele Ratsuchende kontaktieren mich mittlerweile nicht mehr, um mit mir über ihre Zukunft zu reden, sondern um zu hören, wie es mir geht.«
Ich war platt. Mit einer derart üblen Masche hatte ich nicht gerechnet. Man stelle sich vor, ein Kunde ruft nichts ahnend Julia an, um über Liebeskummer, einen unerfüllten Berufswunsch oder Streit mit dem Partner zu sprechen, und erfährt plötzlich von der unheilbaren Krankheit der Dame, die ihn da berät. Was passiert? Der Ratsuchende bekommt ein schlechtes Gewissen, die Beraterin mit seinen Lappalien zuzumüllen, während sie um ihr Leben kämpft. Schon setzte das Helfersyndrom bei den Kunden ein, und Julia konnte sich weiterer Anrufe sicher sein.
Ich: »Ich bin gerade etwas sprachlos.«
Julia: »Das hat sich ziemlich schnell verselbstständigt. Ich glaube, die meisten Stammkunden trauen sich gar nicht mehr, mich nach ihrer Zukunft zu fragen. Jedenfalls stellen sie mir keine Fragen mehr. Die Rollen haben sich sozusagen vertauscht. Jetzt beraten meine Kunden mich, wie ich mit meiner Lebenssituation am besten umgehen kann. Sie sprechen mir Mut zu und fühlen sich schuldig, wenn sie mich nicht jede Woche anrufen, um sich zu erkundigen, wie es mir geht.«
Ich: »Das ist so was von krass. Diese Lüge garantiert dir eine hohe Anruferzahl und sichert dir deinen Lebensunterhalt.«
Julia: »Ich wüsste auch nicht, wie ich aus der Sache jetzt noch rauskommen soll.«
Ich: »Och, du könntest den Leuten von einer wundersamen Heilung erzählen. Ich bin mir sicher, dass 99 Prozent der Kunden dir so eine Geschichte ohne mit der Wimper zu zucken abkaufen würden. Für Wunder sind Ratsuchende doch sehr empfänglich.«
Julia: »Aber dann bekomme ich nicht mehr so viele Anrufe.«
Ich: »Das könnte passieren.«
Julia: »Ach, ich bleibe doch besser bei der Geschichte.«
Julia arbeitet übrigens heute noch als Lebensberaterin, und wahrscheinlich ist sie ihrer Krankheitsgeschichte genauso treu geblieben wie die Anrufer ihr. Sicher hat sich bislang kein Ratsuchender darüber gewundert, wieso Julia trotz unheilbarer Krankheit immer noch putzmunter auf der Line arbeitet. Wahrscheinlich gilt sie als kosmisches Wunder – was ihre Beliebtheit nur noch weiter steigern dürfte.
♈ ☿ 23. Kapitel ♊ ♋
Der Selbsttest
Was kann eigentlich ein Kartenleger sehen?
Würde ich sofort als »Kollegin« entlarvt werden, wenn ich bei einer Astro-Line anriefe, oder würde ich unerkannt bleiben?
Diese Fragen geisterten seit geraumer Zeit in meinem Kopf umher. Für meine Kunden schaute ich gerne auf zukünftige Ereignisse. Doch für mich selbst? Ehrlich gesagt hatte ich noch nie den Drang verspürt, die Dienstleistungen von Kollegen in Anspruch zu nehmen. Ich wollte nie wirklich wissen, was in der Zukunft auf mich zukam. Das würde schon von ganz allein passieren.
Bis ein kalter, verschneiter Sonntag im Januar daherkam, an dem man nicht einmal einen Hund auf die Straße geschickt hätte. Ich beantwortete einige E-Mails, und kurz bevor ich mein virtuelles Postfach schloss, ertönte die mir bekannte Frauenstimme: »Sie haben Post!«
Das Esoterik-Portal, für das ich arbeitete, hatte mir eine Nachricht geschickt.
»Wir schenken Ihnen einen Zukunftsblick«, las ich im Betreff. Ich öffnete die E-Mail.
Liebe/r Berater/in,
wir möchten uns bei Ihnen auf diesem Wege für die loyale und gute Zusammenarbeit bedanken. Als kleines Dankeschön schenken wir Ihnen 20 Gratisminuten, um Sie selber einmal in den Genuss der Lebensberatung auf unserem Portal kommen zu lassen.
Ihr Astro-Team
Ich markierte die E-Mail und hätte sie beinahe in den virtuellen Papierkorb befördert. In letzter Sekunde entschied ich mich dagegen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Einen Moment zögerte ich
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