Ich geh jetzt in dein Karma rein

noch, bevor ich mir einen Ruck gab, mich als Kunde registrierte und die angegebene Servicenummer wählte. Ich war sogar ein bisschen aufgeregt, als es tutete und sich schließlich eine Frauenstimme meldete.
    Beraterin: »Guten Tag, da ist die Chantal.«
    Ich hatte keine Ahnung, was ich die Dame eigentlich fragen sollte, denn ich wollte immer noch nicht wissen, was sich in meinem Leben zukünftig ereignen würde. Was würde wohl passieren, wenn ich mich nicht für die ausgab, die ich in Wirklichkeit war?
    Ich: »Hallo, hier ist die Ornella.«
    Der Name Ornella fiel mir spontan ein. Automatisch verstellte ich meine Stimme und sprach nun viel höher als sonst (diesen Trick hatte ich von meinen Kunden gelernt), damit die Beraterin mich nicht erkannte, falls sie mich zuvor schon selbst angerufen haben sollte.
    Beraterin: »Hallo Ornella, ich begrüße dich zu meiner Lebensberatung und bin gespannt, was du für Fragen hast.«
    Was konnte Ornella bloß fragen? Ich überlegte kurz. Erst mal Zeit gewinnen.
    Ich: »Ich rufe das erste Mal bei einer Kartenlegerin an.«
    Das war noch nicht einmal gelogen.
    Ich: »Kann ich einfach Fragen stellen?«
    Beraterin: »Natürlich. Du stellst mir Fragen, und ich lese die Antworten für dich aus den Karten ab.«
    Ich: »Gut. Dann würde ich gerne wissen, wie … wie sich meine berufliche Situation entwickeln wird.«
    Ich hörte, wie Chantal die Karten mischte, dann auslegte.
    Beraterin: »Oh! Du bist eine sehr kreative Person. Wie eine Künstlerin.«
    War ich das?
    Ich: »Ja?«
    Beraterin: »Kann es sein, dass du Bilder malst?«
    Aha, sie hatte keine Ahnung, dass sie mit einer Kartenlegerin sprach. Ich beschloss, das Spiel mitzuspielen.
    Ich: »Genau, ich bin Malerin.«
    Beraterin: »Und du bist sehr erfolgreich und wirst sogar noch viel erfolgreicher werden. Du stellst deine Bilder auch aus?«
    Ich: »Genau.«
    Beraterin: »Ich sehe da was ganz Großes auf dich zukommen. Du wirst nach Amerika gehen und dort in einer bekannten Galerie in New York deine Bilder ausstellen.«
    Ich: »Das ist ja ein Ding …«
    Beraterin: »Es wird sogar noch besser. Ich sehe, dass du durch deine Bilder berühmt werden wirst und sehr viel Geld dabei herausspringt.«
    Schade, dass ich noch nicht einmal das Haus vom Nikolaus zeichnen konnte, ohne mir dabei die Finger zu brechen. Egal, ich würde demnächst in New York ausstellen!
    Ich: »Das sind ja wirklich super Aussichten für mich. Kannst du denn auch etwas zum Thema Liebe erkennen?«
    Was Chantal dazu wohl sah?
    Beraterin: »Mhm … Da ist jemand bei dir?«
    Ich: »Jaaaa …«
    Beraterin: »Aber ihr seid nicht zusammen?«
    Ich: »Nein.«
    Beraterin: »Er muss noch eine Entscheidung treffen?«
    Messerscharf kombiniert, Chantal!
    Ich: »Genau so ist es.«
    Beraterin: »Und du wartest schon länger darauf, dass er sich entscheidet?«
    Wer stellte hier eigentlich die Fragen?
    Ich: »Mhm …«
    Beraterin: »Ja, das sehe ich ganz klar in den Karten. Aber es gibt Hoffnung – er wird sich für dich entscheiden.«
    Was würde Chantal wohl sagen, wenn ich die Katze aus dem Sack ließe? Ihr verklickerte, dass ich weder Malerin war, noch auf die Entscheidung eines Mannes wartete? In Wirklichkeit war ich seit acht Jahren glücklich liiert, und mein Freund musste sich allerhöchstens morgens zwischen Marmelade und Nutella entscheiden. Die 20 Gratisminuten waren ohnehin beinahe vorbei. Ich beließ es dabei, bedankte mich für die freundliche Beratung und legte auf.
    Was hatte ich eigentlich erwartet? Naja, dass Chantal zumindest ein paar Dinge über mich in ihren Karten sehen konnte. Doch sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wen sie da in der Leitung hatte. Ich hatte Chantal ungewollt des »Nicht-Sehens« überführt, der bewussten Täuschung und Märchenerzählerei. Das enttäuschte mich ziemlich. Kein Wunder, dass diesem Metier so viel Skepsis entgegenschlug! Wie viele von uns Beratern wohl so waren wie Chantal? Mich beschlich langsam die Ahnung, dass die wirklich guten Zukunftsdeuter gar nicht auf einer Line zu finden waren.

♈ ☿ 24. Kapitel ♊ ♋
Nachtfalken
    »Wenn es Nacht wird im Sektor, greifen sie zum Hörer: Freaks und Normalos, Verknallte und Durchgeknallte, Einsame und Verzweifelte.«
    Dies könnte ein typischer Satz von mir sein, den ich über meine Tätigkeit als Kartenlegerin zum Besten gebe. In Wirklichkeit ist es aber der offizielle Teaser auf der Homepage des Kölner Radiosenders 1 LIVE für die Sendung Domian – Der Kult-Talk . Seit 1995