Ich geh jetzt in dein Karma rein
klang ungeduldig. Sie schien bereits zu oft bei anderen Kartenlegern »Stopp« gesagt zu haben. Vielleicht sogar schon mehrmals an diesem Abend.
Ich: »Danke. Ich lege aus. Einen Moment bitte.«
Ungeduldiges Schnaufen erklang am anderen Ende der Leitung. Auch ich atmete leise tief ein und aus, um mich durch ihre Stimmung nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Möge der Gott der Kartenleger mit mir gnädig sein, flehte ich innerlich. Als das Kartenbild lag, wunderte ich mich.
Ich: »So, die Karten liegen. Ich kann aber leider keinen Freund bei dir sehen.«
Anruferin: »Er hat ja auch Schluss gemacht. Im Januar.« (Schweigen)
Das war vor fast einem Jahr. Klar, dass Sigrid routiniert wirkte. Wahrscheinlich hatte sie seit letztem Januar die Astro-Lines rauf und runter telefoniert, um zu hören, dass ihr Ex schon wiederkommen würde, wenn sie nur lange genug wartete. Doch die Karten erzählten mir leider eine andere Geschichte.
Ich: »Ich weiß, dass heute Heiligabend ist und du dir bestimmt wünschst, dass er noch heute vor deiner Türe steht. Aber darf ich dich mal etwas fragen?«
Anruferin: »Ja.«
Ich: »Ich sehe bei ihm eine andere Frau und gleich daneben ein Kind …«
Anruferin: »Diese alte Schlampe soll sich gefälligst vor einen Zug werfen und mir meinen Freund wiedergeben!«
Sigrid spuckte mir die Worte förmlich entgegen. Ich ärgerte mich über mich selbst. Hätte ich bloß auf mein Bauchgefühl gehört und einfach keine Zeit gehabt. Mit Rosi hätte ich schließlich auch am darauffolgenden Tag sprechen können. Spätestens ab dem Moment wusste ich, dass ich aus dieser Nummer nicht mehr heil herauskommen würde. Ich hieß nicht Potter mit Nachnamen und flog auch nicht auf einem »Nimbus 2001«-Rennbesen durch die Lüfte. Die Augen Richtung Himmel gerollt beschloss ich, nicht auf ihre wüsten Verwünschungen einzugehen, sondern mich auf die Tatsachen zu konzentrieren.
Ich: »Hat diese Frau denn ein Kind?«
Anruferin: »Nein, noch nicht. Aber sie ist schwanger. Von ihm!«
Ich: »Oh.«
Was konnte ich dazu nur sagen?
Die Frage erübrigte sich, denn Sigrid war in Fahrt.
Anruferin: »Dabei sollte ich diejenige sein, die von ihm ein Kind kriegt und die er heiratet. Das hat mir jeder Kartenleger so vorhergesagt. Und nun das! Was sollen denn die Leute von mir denken? Und was soll ich denn jetzt machen?«
Ich: »Wollen die beiden denn heiraten?«
Anruferin: »Im Januar. Und alle wissen es. Die Leute reden doch schon hinter meinem Rücken. Er wollte eigentlich ja mich heiraten und hat das überall erzählt. Aber dann hat er dieses Flittchen getroffen und sich ein Kind unterschieben lassen. Das ganze Dorf lacht jetzt über mich. Und ich stehe da wie der Ochs vorm Berg!«
Sigrid redete sich weiter in Rage, oder besser, sie schrie sich in Rage, sodass ich den Telefonhörer im Sicherheitsabstand von meinem Ohr weghalten musste. Derweil überlegte ich angestrengt, wie ich Sigrid beruhigen konnte. Wiederkommen würde ihr Ex bestimmt nicht mehr. Soviel war sicher – auch ohne Orakelkarten.
Ich: »Das tut mir leid. Das ist wirklich eine äußerst unangenehme Situation.«
Ich musste das Ruder herumreißen. Irgendwie. Es war Heiligabend! Doch was konnte ich ihr anbieten? Eine neue Liebe vielleicht? Gute Idee! Ich schaute wieder auf das Kartenbild.
Ich: »Aber weißt du was? Ich habe eine gute Nachricht für dich. Ich sehe nämlich eine neue Liebe.«
Anruferin: »Ich will keine neue Liebe! Er hat gefälligst zu mir zurückzukommen. Da brauchst du mir hier nichts von einer neuen Liebe zu erzählen!«
Sigrid war außer sich, völlig hysterisch.
Ich: »Aber …«
Anruferin: »Deine neue Liebe kannst du dir sonst wo hinstecken! Ich will das, was mir zusteht. Nämlich, dass er sein Versprechen hält und mich gefälligst heiratet. Alle meine Freundinnen sind verheiratet und haben Kinder, nur ich nicht! Wo ist denn da die Gerechtigkeit? So viel Geld habe ich schon für Kartenleger und Partnerrückführungen ausgegeben. Und er ist immer noch nicht da.«
Was sollte ich darauf erwidern? Sie klagte mich gerade stellvertretend für meine Kollegen und ihre persönliche Misere an.
Ich: »Sigrid, ich mache mir große Sorgen um dich. Ich möchte nicht, dass es dir nach unserem Gespräch schlecht geht. Hast du jemanden, an den du dich wenden kannst?«
Anruferin: »Ich habe niemanden.«
Ich: »Was ist mit deinen Eltern?«
Anruferin: »Ich bin im Heim aufgewachsen.«
Oje. Mitten ins Fettnäpfchen.
Ich: »Und die
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