Ich gestehe
Reise mit zwei großen Lügen beginnen – mit der Lüge an Brigit und der Lüge an Bocchanini. Aber was sind Lügen, wenn man liebt? Sind es dann überhaupt noch Lügen? Oder sind es nur verzweifelte Anstrengungen, sich dieses Glück zu erobern? Sind es nur menschliche Aufbegehrungen gegen ein Schicksal, das uns so selten schöne Stunden schenkt?
Das Telefon auf dem Tisch schellte. Ich löste mich aus Gastons Armen und nahm den Hörer ab.
»Dr. Parnasse. Ja, ich komme.«
Ein Neueingang. Eine junge Frau mit starken Blutungen, sicherlich ein Abortus. Ein junger Mann, ihr Geliebter, begleitete sie. Gaston erhob sich von meinem Bett.
»Ich komme mit«, sagte er. »Ausschabungen sind nicht Frauensache!«
Durch den langen weißen Gang mit dem hellblauen, blanken Linoleum eilten wir hinab zur Aufnahme, zwei Menschen, deren Glück kein Schmerz und kein Elend der Umgebung mehr trüben konnten.
Brigit saß an der Staffelei und malte an einem Ölbild – die Pont de Jena mit dem Eiffelturm im Hintergrund –, als ich am Abend nach Hause kam und mich in den breiten Sessel am Fenster warf.
»Ich bin wie zerschlagen«, sagte ich und gähnte. »Den ganzen Tag auf den Beinen. Koch eine starke Tasse Kaffee, Brigit.«
»Sofort!« Sie malte einige Striche weiter mit einem Ernst, der mir fremd an ihr war. Sie fixierte immer wieder das Bild – das übrigens sehr schön zu werden versprach – und erhob sich dann, die Palette zur Seite legend.
»Soll es für das Examen sein?« fragte ich, um etwas zu sagen.
»Das Bild?«
»Ja. Natürlich.«
»Nein.« Brigit schüttelte den Kopf. »Es ist für Lorrain.«
Es gab mir einen Stich, als ich den Namen hörte. Ich muß jedenfalls sehr dumm ausgesehen haben, denn Brigit lächelte.
»Lorrain ist ein Kunsthändler in St. Brieuc«, erklärte sie. »Du kannst dich nicht an ihn erinnern?«
»Nein, gar nicht«, log ich. Aber meine Zunge war schwer. Sie hatte das Telegramm schon bekommen, früher, als ich geglaubt hatte, aber sie kam mir nicht mit ihm entgegengesprungen, sondern setzte sich ruhig an die Staffelei und malte!
»Lorrain war der erste Kunsthändler, der mir ein Aquarell abkaufte. Damals, bei der Ausstellung der Akademie. Heute hat er mir ein Telegramm geschickt, ich solle nach St. Brieuc kommen wegen eines Auftrages!«
»Aber das ist ja wundervoll, Kleines!« Ich sprang auf und umarmte Brigit. Ich spielte die Erfreute und küßte sie auf die Wangen. »Die erste Stufe zum Ruhm!«
»Aber ich fahre nicht!« sagte Brigit hart.
Ein kalter Schauer durchfuhr mich. »Du fährst nicht?« fragte ich stockend. »Du läßt dir diese Chance entgehen?«
»Ich habe kein Geld dazu!«
»Aber Brigit! Dann gebe ich es dir!« Ich griff in meine Handtasche und wollte das Portemonnaie herausnehmen, aber Brigit winkte ab.
»Du hast ja selbst nichts, Gisèle. Dein kleines Gehalt als Assistenzärztin brauchst du selbst. Ich werde Lorrain schreiben, er soll mir das Fahrgeld schicken, sonst könnte ich nicht kommen.«
Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich. Sie wollte an Lorrain schreiben, an den Mann, der von nichts wußte! Vielleicht hatte sie schon geschrieben. Mein Gott, das durfte nie, nie geschehen! »Hast du etwa schon geschrieben?« fragte ich so ruhig wie möglich.
»Nein.« Ich atmete auf. »Aber ich werde es gleich tun.«
»Das läßt du sein! Willst du Lorrain verärgern? Der Mann, der dir eine einmalige Chance gibt? Was telegrafiert er denn?«
»Hier.« Sie gab mir das Telegramm. Ich las es noch einmal durch, und ich empfand keine Reue, als ich den verlockenden Text leise vor mich hinsprach und die große Hoffnung spürte, die die ahnungslose Brigit an ihn knüpfte.
»Das ist ja ein fast festes Angebot«, sagte ich sogar. »Du mußt unbedingt fahren! Vielleicht ist dies der große Sprung nach oben, auf den du immer gewartet hast! Die große Malerin Brigit Parnasse! Wie das klingt! Und wie stolz Vater und Mutter sein werden!« Ich riß aus der Handtasche ein paar Scheine, das letzte Geld, das ich besaß. »Hier, ich gebe dir das Geld. Ich werde mir morgen von Prof. Bocchanini einen Vorschuß geben lassen! Und übermorgen fährst du nach St. Brieuc!«
»Gisèle …« Brigit wollte noch etwas sagen, als ich ihr die Scheine in die Hand drückte. Aber ich schnitt ihr die Worte mit einer Handbewegung ab.
»Kein Wort mehr. Es ist selbstverständlich, daß ich dir helfe! Wenn sich Schwestern nicht helfen, wer sollte es dann tun?«
Einen Augenblick stand Brigit stumm im Zimmer vor
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