Ich glaub, ich lieb euch alle
anderen hin– ich liebe es! Im Theaterflügel lass ich so richtig die Sau raus. Ich mag die Leute da, ganz gleich, was Lynn auch sagt. Auf dem Flur oder so rede ich zwar keinen Ton mit denen, doch ich wünschte, ich könnte es tun. Die sind allesamt ziemlich oberklug. Sie reden über Filme und Bücher. Ich hab zwar keine Ahnung von Büchern, doch was Filme anbelangt, könnte ich schon meinen Senf dazugeben. Sie reden über Leitmotive und Charakterentwicklung und von Dingen, von denen ich noch nie gehört habe. Das Einzige, wovon meine Jungs im Augenblick reden, ist Baseball, und ich find’s echt scheiße, dass ich der Einzige bin, der keine Kappe hat.
Ich bin hier zwar immer noch der Außenseiter, aber irgendwie fühle ich mich ja sowieso überall wie ein Außenseiter. Das ist schon ganz cool, weil Sky Masterson ist ja auch ein Außenseiter. Er hängt am Rande der Gesellschaft ab, und er weiß nicht, wie er mit den Leuten innerhalb der Gesellschaft umgehen soll. Normalerweise nutzt er die Damen nur sexuell aus, doch dann verliebt er sich völlig unerwartet in Sarah und für sie will er sich bessern. Er opfert seinen Ruf als Gangster, um so zu beweisen, dass er das Mädel verdient hat. Bei ihm geht es immer nur um Ehre und darum, niemanden hängen zu lassen. Wenn Sky einmal sein Wort gegeben hat, dann zieht er das durch, ganz gleich, ob es darum geht, eine Wette zu erfüllen, oder darum, für Sarah ein besserer Mensch zu werden. Ich wünschte, ich könnte all dieses Wissen an meine Jungs weitergeben, doch die sind viel zu sehr damit beschäftigt, das Schlagen eines Curveballs zu trainieren.
Selbst nach einem Monat redet Abby mit mir immer noch nicht mehr, als das Skript vorgibt. Am liebsten ist mir in letzter Zeit Jeremy, er ist inzwischen so was wie mein bester Kumpel. Er ist zwar ein klein wenig mädchenhaft, aber auch ziemlich cool. Er hat ein geiles Auto, und ich versuche, seinen Haarstyle und die Klamotten, die er trägt, zu kopieren (na ja, ein bisschen). Er ist ein großartiger Tänzer, und nach den Proben trainiert er immer noch mit mir. Irgendwie übersetzt er für mich die Moves in Gedanken und Ideen, die für mich verständlicher sind als diese seltsamen Namen und das blöde Zählen. Langsam hab ich den Dreh raus.
Ich hab den kompletten Text mit Abby intus wie meinen eigenen Namen. Ich werd ihr nicht die Genugtuung verschaffen und sie hören lassen, wie ich mich nach meinem Text erkundige, weil ich ihn vergessen habe. Am Anfang ist mir das ein paar Mal passiert, und sie hat jedes Mal gegrinst wie blöd. Deshalb lerne ich jetzt alles wie wild auswendig. Wenn man die Zeit mit einkalkuliert, die ich brauche, um mit den Gedanken abzudriften, dann bleibt mir quasi keine Freizeit mehr übrig. Ich hab schon seit sechs Wochen keinen Film im Kino mehr gesehen, und ich hab mich schon seit sechs Wochen nicht mehr in Hormones Auto gequetscht. Wochenenden, Nächte, frühe Morgenstunden– ich opfere jede freie Minute für dieses Stück. Ich will ganz groß rauskommen. Ich will den Theaterfreaks, die denken, ein Freshman könne keine Hauptrolle übernehmen, beweisen, dass sie damit falschliegen. Und wie ich ihnen das beweisen werde!
Gott sei Dank verhält sich mein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom im Augenblick verhältnismäßig ruhig. Ich neige nur dazu abzuschweifen, wenn ich gerade keinen Text habe, das ist also momentan für mich der Hauptkriegsschauplatz. Meistens, wenn es auf der Bühne plötzlich totenstill wird, ist das für mich das Zeichen, dass ich meinen Einsatz verpasst habe, und dann streng ich mein Hirn an und überlege krampfhaft, wo wir gerade waren und was zum Teufel ich jetzt bloß sagen soll. Manchmal spanne ich wie ein richtig harter Junge die Kinnpartie an, als würde ich mir eine dramatische Pause genehmigen, und schleudere dann die fehlende Textzeile raus, als wäre sie ein streng gehütetes Geheimnis. Nach der Probe erklärt Miss McDougle mir: » Carter, lass doch bitte die Pausen in den Dialogszenen.« Als würde ich mich nicht eh schon so dermaßen bemühen, bei der Sache zu bleiben, wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Wenn ich mich auf den ganzen Mist konzentrieren könnte, auf den ich mich konzentrieren soll, dann wär das Leben ja ein Kinderspiel.
Die Proben sind neuerdings besonders hart, weil die Hot Box Girls mittlerweile ihre knappen Kostümchen bekommen haben. Bei einem ihrer Auftritte mimen sie Bauerstöchter und tragen ganz knappe kurze Höschen, bei denen man die Hälfte
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