Ich glaube, der Fliesenleger ist tot!
Temperaturunterschiede. Dieses Rohr hat außer der Beule, die ein abgerutschter Bohrer verursacht haben muss, wahrscheinlich nur einen Haarriss davongetragen. Das heiße Wasser, das ich an den zwei vorhergehenden Abenden aus der Badewanne abgelassen habe, ist durch ein Abwasserrohr im Gäste- WC geflossen. Seine Wärme könnte auf die umliegenden Wände abgestrahlt und ihre Temperatur minimal erhöht haben, sodass sich das Kupfer ausdehnen, der Haarriss vergrößern und Wasser über Nacht entweichen konnte.
Die feuchten Wände im Eingangsflur und im Wirtschaftsraum stammen gar nicht vom Wasserschaden im Kinderbad, berichte ich meinem Mann: Sie stammen von einem zweiten Wasserschaden im Gäste- WC .
»Zwei Wasserschäden. Das glaubt uns keiner«, sage ich.
»Ich kann’s ja selbst kaum glauben«, sagt mein Mann. »Aber eins glaube ich, und zwar ganz fest: Bald bringe ich jemanden um.«
Es ist später Abend, wir sitzen auf dem Balkon, es ist warm draußen. Die Kinder schlafen schon, und zwar auf den Matratzen, die wir aus ihren Zimmern in unser Schlafzimmer getragen und um das Ehebett herum auf den Boden gelegt haben. Im Schlafzimmer sieht es jetzt aus wie in einem Flüchtlingslager.
Neben dem Elternschlafzimmer und dem Elternbad ist der Balkon der einzige Platz, an dem man sich einigermaßen unterhalten kann. Im restlichen Haus stehen überall Trockengeräte, die sehr laut ihre Aufgabe verrichten. Wenn sie rund um die Uhr laufen, schätzt der Trockentechniker, könnte das Haus nach zwei bis drei Wochen trocken sein. Wenn wir sie zwischendurch ausschalten, wird es länger dauern. Wenn wir sie während der Nächte ausschalten, wird es fast doppelt so lange dauern. Fast der gesamte Estrich und zahlreiche Wände im Haus sind feucht, die Kinderzimmer, das kleine Fernsehzimmer, die Küche und der Hausflur sind am schlimmsten betroffen.
Zwischen den Trockengeräten liegen Schläuche, manche führen von einem Zimmer ins nächste, sodass man die Zimmertüren nicht mehr schließen kann. Durch die Schläuche wird heiße Luft in den Boden gepustet. Um die Eichendielen im Obergeschoss zu schonen, hat der Trockentechniker versucht, die heiße Luft an möglichst vielen Stellen durch die Ritze zwischen Dielen und Wand in den Estrich zu leiten. Dafür musste er einen Teil der Fußbodenleisten entfernen. Im Zimmer unseres Sohnes, das gleich neben dem Kinderbad liegt und dessen Boden besonders feucht ist, musste er allerdings ein Loch mitten in den Holzboden bohren und dort einen Schlauch einführen. Im Erdgeschoss dagegen sind überall Löcher im Estrich, in denen Schläuche stecken. Um sie bohren zu können, musste das Linoleum zerschnitten werden – in der Küche vor dem Sanitärschacht fehlt ein sehr großes Stück, weil dort das Wasser unter dem Linoleum stand. Als der Trockentechniker das Tapeziermesser ansetzte, bekam ich schon wieder einen Kloß im Hals und feuchte Augen.
Ich hatte mich vor dem Umzug an den Gedanken gewöhnt, dass es das perfekte Haus nicht gibt. Ich war willens dazuzulernen. Aber diese Lektion, denke ich, ist doch ein bisschen happig. Unser neues Haus ist keine vier Tage alt, und schon sieht es aus wie ein Patient auf der Intensivstation.
Ich nehme noch einmal Baldrian, bevor ich schlafen gehe.
Baunebenkosten inkl. MwSt.:
Übertrag 70.833,81 €
100 ml Baldriantropfen 4,29 €
Zwischensumme 70.838,10 €
Auf der Flucht
Ich stehe an der Bar des Hotels, in dem die Kinder, der Hund und ich vor zwei Stunden angekommen sind. Wir sind mit dem Auto gefahren: von Hamburg ins Altmühltal, wo wir übernachtet haben, von dort auf den Ritten in Südtirol. Soeben haben wir zu Abend gegessen. Jetzt trinke ich einen Espresso, bevor ich noch eine Runde Gassi gehen und dann ins Bett fallen werde. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ich erst in einer Woche wieder aufwache.
Die anderen, schon länger anwesenden Gäste in dem kleinen Familienhotel mustern mich, so wie man Neuankömmlinge eben mustert. Ihre Neugierde wird sicherlich befördert durch die Tatsache, dass ich aussehe wie eine lebende Leiche. Immerhin aber sind wir heil angekommen in diesem Hotel, das schien mir bei der Abfahrt nicht selbstverständlich zu sein, schließlich war es eine lebende Leiche, die das Auto die gut tausend Kilometer von Hamburg nach Norditalien lenken musste. Ich, die Halbgläubige, habe ernsthaft gebetet, bevor ich am Samstagmorgen den Zündschlüssel ins Schloss gesteckt und den Motor angeworfen habe: »Lieber Gott, bitte,
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