Ich hab dich im Gefühl
Damals haben die Franzosen so was zwar benutzt, aber Bettys Kanne stammt aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Das sieht man an der Form des Griffs. Keine gute Arbeit.«
»Ach wirklich?«, sagt Dad und sieht mich interessiert an.
Gebannt starren wir beide auf den Bildschirm, wo der Händler meine Aussage soeben bestätigt. Die arme Betty ist am Boden zerstört, tut aber so, als hätte sie die Teekanne eigentlich sowieso nicht verkaufen wollen, weil sie das gute Stück von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hat.
»Lügnerin!«, ruft Dad. »Betty hat garantiert schon ihre Kreuzfahrt gebucht und sich einen Bikini gekauft. Aber weshalb weißt du so gut Bescheid über Kannen und die Franzosen, Gracie? Hast du das in einem deiner Bücher gelesen?«
»Vielleicht.« Aber ich habe keine Ahnung. Wenn ich über meinen neuen Wissensschatz nachdenke, bekomme ich regelmäßig Kopfweh.
Dad bemerkt meinen Gesichtsausdruck. »Warum rufst du nicht mal eine Freundin an oder so? Ein kleines Schwätzchen tut dir bestimmt gut.«
Ich habe nicht die geringste Lust, aber ich weiß, dass er recht hat. »Na ja, wahrscheinlich sollte ich mich mal bei Kate melden.«
»Dieses kräftige Mädel, das dich mit schwarzgebranntem Whiskey abgefüllt hat, als ihr sechzehn wart?«
»Genau die«, lache ich. Mein Vater hat Kate das nie verziehen.
»Also wirklich. Eine Chaotin, das Mädchen. Was ist eigentlich aus ihr geworden?«
»Nicht viel. Sie hat bloß grade ihren Laden in der Stadt für zwei Millionen verkauft, um Hausfrau und Mutter zu werden.« Ich muss mir auf die Zunge beißen, um nicht laut loszulachen, als ich sein schockiertes Gesicht sehe.
Er spitzt die Ohren. »Na klar, ruf sie an. Plaudert ein bisschen, das macht ihr Frauen doch so gern. Gut für die Seele, hat deine Mutter immer gesagt. Deine Mutter hat auch gern geredet – ständig hat sie mit irgendwem über irgendwas geplappert.«
»Ich frage mich, wo sie das herhatte«, sage ich leise, aber wie durch ein Wunder funktionieren die Ohren meines Vaters plötzlich ganz hervorragend.
»Ihr Sternzeichen war schuld daran. Stier. Hat ’ne Menge Mist geredet.«
»Dad!«
»Was denn? Ich habe sie von ganzem Herzen geliebt, aber sie hat trotzdem eine Menge Mist geredet. Es reichte ihr nicht, über etwas zu reden, nein, ich musste mir auch noch in allen Einzelheiten anhören, was sie darüber dachte. Zehnmal mindestens.«
»Du glaubst doch gar nicht an Sternzeichen«, sage ich und versetze ihm einen Knuff.
»Oh doch. Ich bin Waage.« Er beugt sich von einer Seite zur anderen. »Perfekt ausgewogen.«
Ich lache und ziehe mich dann in mein Zimmer zurück, um Kate anzurufen. Das Zimmer ist praktisch unverändert seit der Zeit, als ich hier gewohnt habe. Obwohl gelegentlich Gäste hier übernachtet haben, nachdem ich weg war, haben meine Eltern die Überreste meiner Siebensachen nie weggeräumt. Sticker von The Cure kleben noch an der Tür, und wo ich Plakate aufgehängt hatte, ist die Tapete gerissen. Als Strafe dafür, dass ich die Tapete zerstört hatte, musste ich den Rasen vor dem Haus mähen und fuhr mit dem Rasenmäher dabei aus Versehen über einen Strauch. Mein Vater sprach den Rest des Tages kein Wort mehr mit mir. Anscheinend hatte der Strauch ausgerechnet da zum ersten Mal geblüht. Damals konnte ich seine Frustration nicht verstehen, aber nachdem ich nun über so viele Jahre harte Arbeit in die Pflege meiner Ehe gesteckt habe und mit ansehen musste, wie sie verwelkt und gestorben ist, kann ich seinen Kummer verstehen. Obwohl ich wette, dass er die Erleichterung nicht empfunden hat, die ich jetzt fühle.
In meinem Zimmer ist nicht mehr Platz als für ein Bett und einen Schrank, aber das war meine Welt. Meine persönliche Zuflucht. Hier konnte ich denken und träumen, weinen und lachen und darauf warten, endlich erwachsen zu werden und all die Dinge zu tun, die ich nicht durfte. Damals war dieses Zimmer der einzige Fleck auf der Erde, der nur mir allein gehörte, und jetzt, mit dreiunddreißig Jahren, ist es wieder so. Wer hätte gedacht, dass ich mich hier wiederfinden würde, ohne die Dinge, die ich mir immer gewünscht habe – oder noch schlimmer, die ich mir immer noch wünsche. Weder bin ich Bandmitglied von The Cure noch mit Robert Smith verheiratet, ich habe weder ein Baby noch einen Ehemann.
Die wilde Blümchentapete passt allerdings überhaupt nicht zu einem Ort der Ruhe: Millionen winziger Blümchen mit hellgrün verblichenen Stielen. Kein Wunder, dass ich
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