Ich hab dich im Gefühl
kerzengerade auf und wittert wie ein Bluthund. »Das ist der Toast, den ich mir vorhin gemacht habe. Hatte die Einstellung zu hoch gedreht, und alles ist verbrannt. Und ausgerechnet waren es auch noch die letzten zwei Scheiben.«
»Wie gemein«, sage ich kopfschüttelnd. »Wo ist eigentlich das Foto von Mum aus der Diele?«
»Welches? Es gibt vierundvierzig Fotos von Mum.«
»Du hast sie gezählt?« Ich muss lachen.
»Klar, schließlich hab ich sie aufgehängt. Insgesamt vierundvierzig Fotos, also brauchte ich vierundvierzig Nägel. Bin runter zum Laden und hab eine Packung Nägel gekauft. Drin waren vierzig Nägel. Da musste ich wegen popliger vier Nägel noch eine Packung kaufen.« Er hält vier Finger in die Höhe und schüttelt den Kopf. »Sechsunddreißig liegen immer noch in meinem Werkzeugkasten. Was soll bloß aus der Welt noch werden?«
Vergessen wir den Terrorismus und die Erderwärmung. Der Beweis für den Verfall der Welt liegt in seinen Augen bei den sechsunddreißig Nägeln in seinem Werkzeugkasten. Wahrscheinlich hat er sogar recht damit.
»Und wo ist das Foto nun?«
»Da, wo es immer war«, antwortet er nicht sonderlich überzeugend.
Wir schauen beide zur geschlossenen Küchentür, in Richtung des Dielentischchens. Nach einer Weile stehe ich auf und will nachsehen gehen. Solche Dinge tut man eben, wenn man Zeit hat.
»Nein, nein«, winkt er ab. »Setz dich hin.« Jetzt steht er auf. »Ich schau mal danach.« Er schließt die Küchentür hinter sich, so dass ich nicht hinaussehen kann. »Da ist sie doch«, ruft er. »Hallo, Gracie, deine Tochter hat sich Sorgen um dich gemacht. Hat gedacht, sie sieht dich nicht, aber du warst natürlich die ganze Zeit über hier und hast sie beobachtet, wie sie an den Wänden geschnüffelt hat, als wäre die Tapete am Brennen. Dabei wird sie einfach nur immer verrückter, verlässt ihren Ehemann und schmeißt ihren Job hin.«
Bisher habe ich gar nicht erwähnt, dass ich eine Auszeit genommen habe, und das bedeutet, dass Conor es ihm erzählt hat, und das wiederum heißt, dass Dad genau gewusst hat, warum ich hier bin, vom ersten Moment an, als er die Klingel gehört hat. Das muss man ihm lassen, er kann sich echt gut dumm stellen. Jetzt kommt er zurück in die Küche, und ich erhasche einen Blick auf das Foto, das brav auf dem Dielentischchen steht.
»Oh!«, ruft er plötzlich und sieht erschrocken auf seine Armbanduhr. »Schon gleich halb elf! Gehen wir rein, schnell!« So behände habe ich ihn lange nicht mehr gesehen – ratzfatz packt er seine Fernsehzeitung und seine Teetasse und eilt ins Fernsehzimmer.
»Was schaust du dir denn an?«, frage ich, während ich ihm amüsiert folge.
»
Mord ist ihr Hobby.
Kennst du das?«
»Nein, das hab ich noch nie gesehen.«
»Oh, das musst du dir anschauen, Gracie, wart’s nur ab! Diese Jessica Fletcher ist echt witzig, wie die ihren Mördern auf die Schliche kommt. Auf dem nächsten Programm sehen wir uns dann noch
Diagnose: Mord
an, wo der Arzt den Fall löst.« Er nimmt einen Stift und umkringelt die Sendung auf der Seite.
Dads Aufregung reißt mich mit. Er schmettert die Titelmelodie und macht Trompetengeräusche mit dem Mund.
»Komm rein, leg dich auf die Couch, ich deck dich zu.« Er nimmt die karierte Decke, die über der Rückenlehne der grünen Samtcouch liegt, und breitet sie sanft über mich, steckt sie fest, so eng, dass ich meine Arme nicht bewegen kann. Auf derselben Decke bin ich als Baby herumgerollt, in dieselbe Decke wurde ich eingepackt, wenn ich krank von der Schule heimkam und auf dem Sofa fernsehen durfte. Voller Zuneigung beobachte ich Dad, erinnere mich, wie zärtlich er zu mir war, als ich klein war, und fühle mich plötzlich wieder in alte Zeiten zurückversetzt.
Bis er sich aufs eine Ende der Couch setzt und mir fast die Füße zermalmt.
Elf
»Was meinst du, Gracie – wird Betty am Ende der Sendung Millionärin sein?«
In den letzten paar Tagen habe ich mir eine Unmenge halbstündiger Vormittagssendungen angesehen, und jetzt sind wir gerade bei der
Antiquitäten-Roadshow
. Betty ist siebzig Jahre alt, aus Warwickshire und wartet gespannt, während der Antiquitätenhändler versucht, den Preis der alten Teekanne zu schätzen, die sie mitgebracht hat.
Ich beobachte, wie der Mann die Kanne vorsichtig begutachtet, und ein angenehmes, vertrautes Gefühl steigt in mir auf. »Tut mir leid, Betty«, sage ich zum Fernseher, »das ist kein Original aus dem achtzehnten Jahrhundert.
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