Ich hab dich im Gefühl
gebe das Geflüster an seinem Ohr auf und wende mich ihm direkt zu. »Ich habe etwas bekommen, oder besser gesagt, jemand hat etwas ganz Besonderes mit mir geteilt. Es ist total unerklärlich und ergibt keinen Sinn, es kommt mir mystisch vor, so à la Heilige Maria von Knock, weißt du.« Mit einem nervösen Lachen halte ich inne, als ich sein Gesicht sehe.
Nein, er weiß überhaupt nicht, was ich meine. Vielmehr ärgert er sich, weil ich die Erscheinung der Jungfrau Maria im County Mayo von 1879 als ein Beispiel für irgendwelchen Unsinn benutzt habe.
»Okay, vielleicht war das ein schlechter Vergleich. Was ich meine, ist, dass es anders ist als alles, was ich jemals erlebt habe. Ich verstehe selbst nicht, warum.«
»Gracie«, sagt Dad und reckt das Kinn in die Höhe. »Knock hat wie der Rest von Irland im Lauf der Jahrhunderte viel Leid erfahren, Invasion, Vertreibung, Hungersnot, und Unser Herr hat Seine Mutter, die Heilige Jungfrau, geschickt, um Seine geschundenen Kinder zu trösten.«
»Nein«, entgegne ich und schlage die Hände vors Gesicht. »Ich meine doch nur, dass ich mir überhaupt nicht erklären kann, warum mir das alles passiert. Dass ich einfach diese … diese
Sache
bekommen habe.«
»Hm. Tja, schadet diese
Sache
irgendjemandem? Wenn nicht, und wenn du sie einfach so gekriegt hast, würde ich nämlich aufhören, von einer ›Sache‹ zu reden, und allmählich mal anfangen, sie ein ›Geschenk‹ zu nennen. Schau doch nur, wie die da unten tanzen. Der Typ glaubt tatsächlich, dass sie das Schwanenmädchen ist. Dabei kann er doch ihr Gesicht sehen. Oder ist es bei ihm wie bei Superman, wenn er die Brille abnimmt, und auf einmal ist er ganz anders, obwohl jedem sonnenklar ist, dass er der gleiche Mensch ist?«
Ein Geschenk. So habe ich es noch nie gesehen. Ich schaue zu Beas Eltern hinüber, die vor Stolz strahlen, und ich denke an Bea vor der Pause, wie sie in ihrem Schwanenschwarm umhergeschwebt ist. Ich schüttle den Kopf. Nein. Es schadet niemandem.
»Na dann«, sagt Dad und zuckt die Achseln.
»Aber ich verstehe nicht,
warum
und
wie
und …«
»Was ist das nur mit euch jungen Leuten heutzutage?«, zischt er mich an, so laut, dass der Mann neben mir sich umdreht. Ich entschuldige mich flüsternd.
»Zu meiner Zeit war etwas einfach nur so, wie es eben war. Nicht diese ganze hundertfache Analysiererei. Keine Collegekurse, in denen die Leute ein Diplom kriegen für Warum und Wie und Weil. Manchmal musst du all diese Worte einfach vergessen, Liebes, und einen Kurs machen mit dem Thema ›Danke‹. Schau dir diese Geschichte hier an«, fährt er fort und deutet hinunter auf die Bühne. »Beschwert sich irgendjemand darüber, dass hier eine
Frau
in einen
Schwan
verwandelt worden ist? Hast du in deinem ganzen Leben schon mal so was Absurdes gehört?«
Lächelnd schüttle ich den Kopf.
»Bist du in letzter Zeit jemandem begegnet, der in einen Schwan verwandelt worden ist?«
Ich lache und flüstere: »Nein.«
»Und trotzdem: Diese Geschichte ist berühmt, in der ganzen weiten Welt, und das seit Jahrhunderten. Hier sitzen Ungläubige, Atheisten, Intellektuelle, Zyniker,
er hier …
« – Dad macht eine Kopfbewegung zu dem Mann, den unser Gespräch gestört hat – »… alle möglichen und unmöglichen Leute sind heute Abend hier, um zu sehen, wie der Knabe in den Strumpfhosen dieses Schwanenmädchen kriegt, damit sie endlich aus ihrem See rauskommt. Nur mit der Liebe eines Menschen, der noch nie zuvor geliebt hat, kann der Zauber gelöst werden. Warum? Wen interessiert das denn, zum Henker? Meinst du, die Frau mit den Federn hat vor, sich zu erkundigen,
warum
? Nein. Sie wird sich bedanken, weil sie nicht mehr in diesem See bleiben muss, sondern hübsche Kleider anziehen und Spaziergänge machen kann, statt jeden Tag für den Rest ihres Lebens in diesem stinkigen Wasser nach aufgeweichtem Brot picken zu müssen.«
Ich bin sprachlos.
»Aber
pssst
jetzt, wir verpassen ja die Hälfte. Jetzt will sie sich umbringen, siehst du? Wenn das nicht dramatisch ist.« Damit stützt er die Ellbogen auf die Brüstung und beugt sich darüber, das linke Ohr zur Bühne geneigt, gebannt lauschend.
Fünfundzwanzig
Während die Leute aufstehen und applaudieren, beobachtet Justin, wie Joyce’ Vater ihr in ihren roten Mantel hilft, den er schon von ihrem Zusammenstoß auf der Grafton Street kennt. Dann bewegt sie sich auf den nächsten Ausgang zu, den alten Mann im Schlepptau.
»Justin!«, ruft Jennifer
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