Ich habe abgeschworen
diese nur sozial gerechte Gebote sein. In meinem letzten Schuljahr bereitete ich mich somit nicht nur durch Schullektüre auf die Universität vor, sondern begann, mich für die Ideen von Sozialismus und Kommunismus zu begeistern. Mein Großvater war ein liberaler Mann, er freute sich an meiner Wissbegier und diskutierte gerne über Politik und Philosophie. Abends durfte ich in sein Zimmer kommen und mich auf den Boden hocken, während er auf einem Stuhl saß, dem einzigen, den wir besaßen. Ich las ihm aus seinen Büchern vor, und er kommentierte das Gehörte. Als ich ein Jahr später fortzog, vermisste ich diese abendlichen Lesestunden sehr. Bei jedem meiner Besuche zu Hause nahmen wir unser Leseritual aber wieder auf. Bis zu seinem Tod 1980 wohnte er bei meiner Mutter, den Sieg der Islamisten musste er zu seinem eigenen Entsetzen noch miterleben.
Schon bevor mein Großvater mit seinen Büchern eingezogen war, hatte ich angefangen, Fragen zu stellen. Ich überlegte immer wieder, ob es eine Sünde sei, nicht mehr zu beten, denn ich begann an meinem Glauben zu zweifeln, aber ich hatte Angst zu sündigen. Ich hatte manchmal das Gefühl, in meinem Kopf wäre ein Knoten – wenn es keinen Gott gäbe, könnte ich durch Unglauben nicht sündigen, da es auch keine Sünde gäbe. Aber wenn ich sündigte, indem ich nicht glaubte, musste es ja einen Gott geben. Von klein auf hatte ich es als selbstverständlich betrachtet, dass da immer ein Gott ist, der alles sieht, und ihm zu Gefallen sein, war der höhere Sinn des Lebens. Diese Botschaft war selbst mit einem atheistischen Großvater bei mir angekommen. Religion war auch von meinem Alltag nicht zu trennen.
Wenn mein Onkel aus Teheran zu Besuch kam, stritt er mit meiner Mutter über die Existenz Gottes. Sie verbat sich gottloses Reden in ihrem Haus. Dass es Gott nicht gibt, war für sie eine genauso unsinnige Aussage wie wenn jemand behauptet hätte, es gäbe keine Sonne. Gott war eine Tatsache. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mein Onkel aber erzählte uns Kindern, dass man an der Universität überall ganz offen darüber streite, ob es überhaupt einen Gott gäbe, und dass er nicht mehr an seine Existenz glaube.
Als kleines Kind hatte ich meinem Großvater noch erklärt, es sei nicht gut, wenn er Witze über Mohamed mache und Gottes Existenz leugne. Ich war besorgt um seinen Platz im Paradies.
Und mit 16 habe ich dann selbst aufgehört zu glauben. Meine Mutter tolerierte stillschweigend, dass ich meine Gebete nicht mehr sprach, wenn ich alleine war. Nur in der Moschee betete ich im hinteren Teil des Saales, dort, wo die Frauen ihren Platz hatten. Diese innere Abkehr vom Glauben war in linken Kreisen, vor allem später an der Uni, häufig anzutreffen. Es war radikal, sich als Atheist zu bezeichnen, aber es schien uns fatalerweise nicht politisch. Politisch war der Antiimperialismus, der Kampf gegen den Schah und seine westlichen Verbündeten. Zwar hatte die Diktatur einige Verbesserungen der westlichen Moderne gebracht, so die Bildung für Frauen. Doch war es eben eine Diktatur, es gab keine Meinungsfreiheit, keinen Pluralismus und keine Achtung der individuellen Menschenrechte. Da die Menschen im Iran diese individuellen Menschenrechte nicht kennenlernten, mit voller Billigung der USA und Großbritanniens, die im Schah einen Verbündeten gegen das Sowjetreich sahen und den Zugang zu den Ölfeldern für wichtiger als Freiheit für Millionen Iraner erachteten, konnte die Theokratie der Mullahs mit ihrem fanatischen Khomeini an der Spitze nahtlos an das Regime des Schahs anknüpfen. Das Diktat des Schahs wurde durch das Diktat der Religion ersetzt. Eine Chance, freies Denken und ein Gespür für Individualität zu bekommen, hatte das iranische Volk nie. Gott, besser gesagt die Mullahs, die sich Führer in seinem Namen nannten, haben sich als die größten Diktatoren erwiesen.
Ich bin in einer Diktatur aufgewachsen, in der das freie Denken unterdrückt wurde. Auch wenn die Menschen sahen, dass es Ungerechtigkeiten gab, war es schwer, Ideen für eine bessere Gesellschaft zu entwickeln, denn dazu fehlten Informationen und die Möglichkeit zum offenen Austausch. Das hat es den Ayatollahs leicht gemacht, die Macht zu übernehmen. Die Menschen im Iran waren es gewohnt, zu folgen, nicht zu entscheiden. Die meisten hatten nicht die Chance, verschiedene Möglichkeiten für ein neues politisches System gegeneinander abzuwägen. Der Befreiung vom Regime des Schahs folgte keine
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