Ich habe abgeschworen
meine Mutter, bei seinen Worten anfingen zu weinen. Nach einem gemeinsamen abschließenden Gebet endete das Treffen, alle verabschiedeten sich wieder wortreich und mit Umarmungen voneinander, und wir gingen nach Hause. Meine Mutter war für den Rest eines solchen Tages mehr in sich gekehrt und strahlte eine innere Ruhe aus. Es schien, als hätte diese Mischung aus sozialen Kontakten und tränenreichem Gebet ihr neue Kraft gegeben.
Als ich 14 war, ging ich nur noch selten mit zu diesen Treffen, aber ich erinnere mich, dass statt des Mullahs nun eine junge Frau aus Teheran kam. Sie war sehr hübsch, Mitte 20, und lehrte den Islam ganz neu. Sie erzählte nicht einfach alte Geschichten. Ich erinnere mich, dass sie erklärte, eine gute Muslima wolle sich in jedem Augenblick dem Willen Allahs verschreiben und seine Gebote befolgen. Und sie beschrieb die Verlockungen des Teufels, denen gerade wir Frauen zu widerstehen hätten, denn wir seien eine dieser Verlockungen für fremde Männer. Die Vorschriften und Rituale der Religion sollten wir nicht nur befolgen, sondern wir sollten immer wieder überprüfen, ob wir in Gedanken und Tun noch auf dem rechten Weg seien. Zudem prangerte sie die Gottlosigkeit der iranischen Regierung und des Schahs mit seinem Luxusleben an.
In dieser Zeit wurde mir die Kluft zwischen diesem Lebensweg und dem westlich geprägten meines Großvaters immer deutlicher, und ich selbst spürte immer mehr den Riss, den diese beiden Wege mitten durch mich hindurch gezogen hatten. Ich ahnte, ich würde mich entscheiden müssen. Aber eine Entscheidung war im Islam nicht vorgesehen. Allah ist unantastbar. In den Sommerferien wohnte ich bei meinem Bruder Amir und seiner Frau. Beide waren berufstätig, sie arbeitete in einem Büro bei der Armee, und beide teilten sich die Hausarbeit und die Kinderbetreuung. Doch auch in Teheran breitete sich die islamistische Bewegung aus. Eine meiner Lehrerinnen hatte mir Bescheid gegeben, dass sie den Sommer über die Islamschule in der Erschad-Moschee besuchen würde. Dies ist eine große Moschee in Teheran, die islamistische Bewegung war dort schon in den 70er-Jahren erstarkt. Die Volksmudschaheddin waren aus der linken Opposition entstanden, sie wollten die Monarchie stürzen und ein islamistisches Linksregime errichten. Die Schriften ihres Vordenkers, des Soziologen Ali Shariati, waren bei vielen Jugendlichen populär. Er hatte in Paris studiert und kritisierte die Ausrichtung des Schahs nach Westen. Der Iran sollte eine stolze und eigenständige Nation werden. Dieser Teil seiner Schriften, die nationalistischen, machten mich skeptisch. Ich konnte mich nicht dem Gedanken anschließen, dass der Iran ein von Allah besonders geliebtes Land sei. Aber mir war klar, warum Shariati so großen Anklang fand: Er versuchte, dem Volk, das sich vom Schah und den USA gedemütigt fühlte, Stolz zu geben, Stolz auf die eigene Nation. Shariati war zu dieser Zeit im Iran wesentlich bekannter als Khomeini. Dieser kam später mit Hilfe der Anhänger Shariatis, den Volksmudschaheddin, und ihrer großen Anhängerschaft, gerade unter jungen Leuten, an die Macht – und sie wurden von ihm in den 80er-Jahren fallen gelassen, ihre Anhänger verfolgt und hingerichtet, wie vorher die linke Opposition.
In Abhar, in unserem Haus, waren ganz andere Gedanken eingezogen – in Form der Bücher meines Großvaters, der 1975 zu uns zog. Er hatte ein kleines Zimmer für sich, und dieses bestand zur Hälfte aus Büchern. Ich begann mich durch sie hindurchzulesen, wenn ich nicht im Haushalt helfen oder Hausaufgaben machen musste. Rausgehen durfte ich in diesem Alter sowieso nur noch für direkte Wege, immer in einen Tschador gehüllt, den Blick zu Boden gesenkt. Marx, Lenin und Sartre aber warteten zu Hause auf mich. Bei ihnen gab es nicht nur keinen Gott, sondern dessen »Tod« eröffnete ganz neue Möglichkeiten für ein freies Denken und Handeln. Es waren Sätze wie diese von Sartre, die mich zu dieser Zeit langsam und mühsam, wegen meiner tief verankerten Angst vor Gott, vom Islam befreiten: »Wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen.« 22 Der ganz auf sich selbst zurückgeworfene Mensch ist im eigentlichen Sinne verantwortlich für das Wohl aller Menschen – da er nur noch menschliche Gebote befolgen muss, können
Weitere Kostenlose Bücher