Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
Flügel die amerikanische Flagge aufgemalt war, über dem Konzentrationslager kreiste. Im Stillen dachte ich: »Schau dir diese Nazis an, sie drangsalieren die ganze Welt, und da laufen sie wie die Hasenfüße!« Ich erkannte das amerikanische Sternenbanner, weil unsere Tante, Papas Schwester, in Cleveland/Ohio lebte. Vor dem Krieg hatte sie uns Briefe mit Briefmarken geschickt, auf denen die amerikanische Flagge aufgedruckt war. Jetzt flog das Flugzeug niedrig und zog einen gelben Kreis aus Rauch über dem gesamten Lager. Selbst in jenen Tagen wussten wir, dass der Flieger keine Bomben innerhalb des Kreises abwerfen würde. Es folgten weitere Flugzeuge, und in der Ferne hörten wir Bombenexplosionen. Die amerikanischen Flugzeuge flößten uns Hoffnung ein. Sie bedeuteten, dass Hilfe unterwegs war. Irgendwann bald würde man uns befreien und wir würden nach Hause zurückkönnen – wenn wir nur lange genug am Leben blieben. Wir Kinder klatschten; dies waren unsere Sternstunden.
Bei unserem nächsten Laborbesuch jedoch machten die Ärzte sich nicht einmal die Mühe, mich zu untersuchen. Sie riefen meine Nummer auf und maßen meine Temperatur. Ich begriff, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Sofort setzten mich zwei Krankenschwestern in irgendein Fahrzeug, ein Auto oder einen Transporter, und fuhren mit mir weg. Selbst Miriam bekam ich nicht noch einmal zu sehen, bevor ich weggebracht wurde. Es war das erste Mal während unserer Lagerzeit, dass wir getrennt wurden. Indem wir zusammengeblieben waren, uns gegenseitig gestützt hatten, ein anderes menschliches Wesen hatten, das uns wirklich wichtig war, hatten wir es geschafft, uns nicht so allein zu fühlen.
Die Schwestern brachten mich zum Krankenbau: Block 21, eine verdreckte Baracke nahe der Gaskammer und den lodernden Schornsteinen. Ein grässlicher Gestank erfüllte die Luft. In dreistöckigen Etagenbetten lagen halb tote Gestalten. Reihe um Reihe bildeten sie ein Meer von Menschen, die einen langsamen Tod starben. Es waren alles Erwachsene. Als ich vorüberging, streckten sie ihre knochigen Finger aus.
»Bitte!«
»Wasser! Wasser!«
»Essen! Bitte! Irgendwas!«
»Helft mir!«
Sie alle schienen zu wehklagen, unfähig, sich zu bewegen. Es schienen sich mir mehr Hände entgegenzustrecken, als dort Menschen sein konnten. Ich erinnere mich, in der Bibel von einem Tal des Todes gelesen zu haben; den Krankenbau erlebte ich als jenes Tal. Er war der furchtbarste Ort, den ich je betreten hatte.
Ich wurde mit zwei älteren Mädchen, Vera und Tamara, auf ein Zimmer gelegt. Beide gehörten jeweils zu einem anderen Zwillingspaar. Sie hatten Windpocken, waren also nicht allzu krank. Unser Zimmer war klein, aber wir hatten es zu dritt für uns – ein weiteres Privileg für Zwillinge.
An diesem Abend kam und ging die Zeit für die Nachtmahlzeit. Wir erhielten keine Essensration.
»Wieso geben sie uns nichts zu essen?«, fragte ich. »Wir müssten doch Brot bekommen.«
Vera sagte: »Hier kriegt niemand zu essen, weil sie die Leute zum Sterben herbringen oder sie von hier zum Sterben in die Gaskammer verfrachten.«
»Sie wollen keine Lebensmittel an Sterbende verschwenden«, sagte Tamara.
Ich darf nicht sterben, befahl ich mir selbst.
Ich werde nicht sterben.
In jener Nacht war ich zu krank, um hungrig zu sein. Es war schlimm für mich, einzuschlafen, ohne Miriam zum Festhalten an meiner Seite zu haben. Im Dunkeln hörte ich Menschen stöhnen und vor Schmerz schreien. Ihre Schreie zerrissen mich. Noch nie hatte ich so viele Stimmen klagen, heulen und brüllen hören.
Am nächsten Tag kam ein Lastwagen. Die am schlimmsten Erkrankten wurden auf die Ladefläche geworfen, um sie anschließend direkt zur Gaskammer zu transportieren. Einige von ihnen kreischten und wanden sich, als sie auf andere, die bereits tot waren, geschleudert wurden.
»Werde ich in die Gaskammer gebracht?«, dachte ich. Die Gaskammer war immer gegenwärtig, neben dem Krematorium, das überall um uns seinen Gestank von brennenden Menschenhaaren, Knochen und menschlichem Fleisch in die Luft ausstieß. Die Gaskammer war in diesem Lager für jeden gefährlich nah, aber mehr noch für uns im Krankenbau. Die Laster kamen zweimal wöchentlich. Jahre später erfuhr ich, dass ein Arbeitstrupp, unmittelbar bevor die Leichen ins Krematorium geworfen wurden, Goldzähne ausriss und jeglichen Schmuck entfernte. Die Nationalsozialisten nahmen den Leichen im Schnitt täglich an die 35 Kilogramm Gold ab. Davon
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