Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
Fieberkurve. Ich musste sie überzeugen, dass meine Temperatur sank, damit ich in die Zwillingsbaracke zurückgeschickt würde. Also heckte ich einen Plan aus.
Vera und Tamara brachten mir bei, wie man das Thermometer ablas. Wenn die Schwester, eine Mitgefangene, hereinkam und mir das Thermometer unter den Arm steckte, sagte sie mir, ich solle es dort lassen, bis sie zurückkam. Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, holte ich das Thermometer heraus, las es ab und schüttelte es ein wenig herunter. Dann schob ich es fast der ganzen Länge nach seitlich in die Achselhöhle zurück und ließ es am hinteren Ende herausschauen, so dass es keinerlei Veränderungen mehr registrierte. Die Schwester kam wieder, las meine Temperatur ab und schrieb sie auf. Ich musste sehr aufpassen und schrittweise vorgehen, damit Mengele nicht misstrauisch wurde wegen meiner Genesung. Und der Plan funktionierte! Drei Wochen später wurde ich entlassen.
Voller Freude kehrte ich zu meiner Schwester zurück. Jetzt, da wir wieder zusammensein konnten, war mir klar, dass ich genesen würde. Aber Miriams Aussehen entsetzte mich. Sie hatte einen leeren Ausdruck in den Augen, saß da und starrte in die Gegend. Sie wirkte schwach und teilnahmslos.
»Was ist los?«, fragte ich sie. »Was ist passiert? Was haben sie mit dir gemacht?«
»Nichts«, sagte Miriam. »Lass mich in Ruhe, Eva. Ich kann nicht darüber sprechen.«
Ich begriff, dass unsere Trennung Miriam schlimm zugesetzt hatte. Sie hatte geglaubt, ich käme nicht wieder; die Vorstellung, ganz allein zu sein, hatte ihr die Hoffnung geraubt. In der Lagersprache war sie zum Muselmann geworden, zum lebenden Leichnam, zu jemandem, der keinen Antrieb mehr hatte, um für sein Leben zu kämpfen.
In den ersten beiden Wochen meiner Abwesenheit wurde sie nicht ins Labor geschickt. Sie wurde isoliert, unter ständiger Bewachung der SS. Anfangs wusste Miriam nicht, was mit mir geschah, aber meine Zwillingsschwester spürte wohl, dass man auf etwas wartete. Als ich nicht starb, wie Mengele eigentlich gedacht hatte, wurde Miriam ins Labor gebracht, und ihr wurden zahlreiche Spritzen injiziert, die sie krank machten. Die Injektionen stoppten das Wachstum ihrer Nieren, sodass sie bei der Größe einer Zehnjährigen blieben. Den Zweck dieses Experiments an meiner Schwester habe ich nie herausgefunden.
Was ich jedoch tatsächlich erfuhr, war, dass Mengele meinen Tod durch die Krankheit, mit der ich infiziert worden war, geplant hatte. Dr. Miklos Nyiszli, ein jüdischer Mitgefangener und Pathologe von Beruf, schrieb und veröffentlichte einen Augenzeugenbericht, in dem er schilderte, dass Mengele regelmäßig Pathologen beauftragte, Autopsien an Zwillingen durchzuführen, die im Abstand von wenigen Stunden gestorben waren – eine einzigartige Gelegenheit, die Auswirkung von Krankheiten zu untersuchen, durch Vergleich eines gesunden und eines kranken Körpers, die ansonsten fast vollständig identisch waren. Wäre ich im Krankenbau gestorben, so hätte man Miriam eilig ins Labor gebracht und mit einer Chloroforminjektion ins Herz getötet. In zeitgleich vorgenommenen Autopsien hätte man meine kranken Organe mit ihren gesunden verglichen. Wären die Organe irgendwie von wissenschaftlichem Interesse gewesen, hätte Mengele sie persönlich angeschaut und dann in einem Paket mit der Aufschrift »Eilt! Kriegsmaterial« ans anthropologische Institut in Berlin-Dahlem geschickt.
Ich aber, ein zehnjähriges Mädchen, hatte über Mengele triumphiert, indem ich sein Experiment überlebte. Jetzt war es an mir, meiner Zwillingsschwester zu helfen, damit sie wieder gesund wurde. Ich durfte sie nicht verlieren. So einfach war das. Wie es mir gelingen sollte, war eine andere Frage.
Siebentes Kapitel
In Auschwitz-Birkenau wussten wir nie, was der nächste Tag bringen würde.
Jeder Tag brachte neue Bedrohungen, die wir zu überleben versuchten. Miriam war schwer erkrankt, und dies war mehr als nur der unaufhörliche, Ruhr-bedingte Durchfall. Wir hatten zwar alle Durchfall, Miriam aber hatte ihren Lebenswillen verloren. Ich musste irgendeine Möglichkeit finden, ihr bei der Genesung zu helfen. Eine der Ursachen für ihre Krankheit waren die Spritzen, die man ihr während meiner Abwesenheit gegeben hatte.
Im Lager hieß es, Kartoffeln würden uns kräftigen und seien gut gegen den Durchfall. Die Menschen in Auschwitz »organisierten« alles, was sie zum Überleben brauchten, von den Nationalsozialisten. Das Organisieren
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