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Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt

Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt

Titel: Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva;Buccieri Mozes Kor
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wegdrehte und die Injektionen zählte, bis sie vorüber waren.
    Auf dem Rückweg zu unserer Baracke sprachen Miriam und ich nicht über die Spritzen. Ich begriff jene Spritzen als den Preis, den wir zahlen mussten, um zu überleben: Wir überließen ihnen unser Blut, unsere Körper, unseren Stolz, unsere Würde, und im Gegenzug ließen sie uns einen Tag länger leben. Ich erinnere mich an keinen einzigen Zwilling, der nicht bereit war mitzumachen.
    Damals wussten wir weder, welchen Zweck die Experimente hatten, noch was uns injiziert wurde. Später brachten wir in Erfahrung, dass Dr. Mengele einige Zwillinge gezielt mit gefährlichen oder lebensbedrohlichen Krankheiten wie z.B. Scharlach infizierte und ihnen anschließend Spritzen mit irgendwelchen Stoffen verabreichte, um zu sehen, ob das die Krankheit heilte. Einige Spritzen dienten auch dem Versuch, die Augenfarbe zu ändern.
    Ältere Mädchen erzählten uns, viele Jahre nachdem wir alle befreit worden waren, dass Mengele sie in ein Labor gebracht, ihnen Bluttransfusionen von Jungen gegeben und umgekehrt ihr Blut in die Körper von Jungen übertragen hatte. Er suchte nach einer Methode, Mädchen in Jungen und Jungen in Mädchen umzuwandeln. Viele dieser Einzelheiten erfuhr ich vierzig Jahre später, so auch die Geschichte der Zwillingsbrüder, denen als Jugendliche Geschlechtsteile abgeschnitten wurden im Zuge von Mengeles Bemühungen, sie in Mädchen zu verwandeln. Einer der beiden Jungen starb im Bett direkt neben seinem Zwillingsbruder, der später sagte: »Ich spürte, wie der Körper meines Bruders kalt wurde.«
    Zu jener Zeit hieß es, sechs Zwillingspaare seien in dieses Labor gebracht und ermordet worden. Ich habe nie gesehen, wie jemand getötet wurde; ich bekam nur mit, dass ein paar Zwillinge verschwanden. Aber zuletzt erfuhr ich doch, dass die Gerüchte stimmten, dass Zwillinge an einigen der Experimente starben. Man sagte uns, sie seien »sehr krank« geworden. Mengele ersetzte sie dann einfach durch neue Zwillingspaare, die gerade mit den Deportationszügen angekommen waren. Das war die Art und Weise, wie selbst die privilegiertesten Gefangenen in Auschwitz betrachtet wurden. Nicht einmal Mengeles Lieblinge wurden als Menschen behandelt. Wir waren ersetzbar. Austauchbar.
    Nicht ersetzt wurden unsere hübschen, gleich geschnittenen Kleider, die so stark verschlissen, dass wir sie nicht länger tragen konnten. Man gab uns Frauenkleidung. Aber die Kleidungsstücke waren zu groß, deshalb banden Miriam und ich uns beide eine Schnur um die Taille, um die Kleider zusammenzuhalten. In die Oberteile steckten wir alles, was wir mit uns trugen, zum Beispiel eine Blechschüssel oder ein Stück Brot, das wir vom Abend zuvor aufbewahrt hatten.
    Morgens vor dem Zählappell, und an den Tagen, an denen wir ins Blutlabor geschickt wurden, halfen wir bei der Betreuung der jüngeren Kinder. Außerhalb unserer Baracke gab es eine eingezäunte Fläche, wo wir mit ihnen spielten. Die älteren Mädchen brachten Miriam und mir das Stricken bei. Wir rissen Stacheldrahtstücke von der Einzäunung, schlugen mit den Drähten auf einen Stein, um die Stacheln zu lockern, und lösten diese dann ab. Das dauerte lange. Danach spitzten wir die Enden des Drahts an ein paar Steinen zu, um Stricknadeln daraus zu machen. Eines der Zwillingsmädchen besaß einen alten Pullover, den wir auftrennten und dessen Wolle wir aufbewahrten. Alle Mädchen durften der Reihe nach stricken, so lange, bis die Wolle des Pullovers vollständig aufgebraucht war. Dann trennte die Nächste das Gestrickte wieder auf, und wir fingen von vorne an. Es ging nicht darum, ein fertiges Produkt herzustellen – eine Mütze, einen Schal oder Socken. Das Stricken lenkte uns von unseren Sorgen ab.
    Doch Tod und Gefahr waren nie weit entfernt. Eines Tages, als wir uns im Freien aufhielten, rollte ein Karren mit Leichen vorbei. Wir rannten zum Zaun, um zu sehen, ob wir einen der Toten kannten.
    Ein Mädchen schrie auf: »Mama! Da ist meine Mama!«, und brach in Tränen aus. Sie begann zu schluchzen, und ihr Schmerz steigerte sich zu lautem Wehklagen, während der Karren seinen Weg fortsetzte. Ich empfand Mitleid mit ihr, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.
    In diesem Moment wurde mir bewusst, dass unsere Mutter vielleicht ebenfalls auf einem Leichenkarren vorbeigekommen war; wir hatten sie nur nicht gesehen. Die Karren fuhren jeden Tag hier entlang. Manchmal waren die Gefangenen tot, manchmal nur dem Tod nah; ohne

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