Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
Unterschied wurden sie alle zu ihrer letzten Ruhestatt geschafft.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht mehr über meine Familie nachgedacht. Vielleicht lag es an dem Brot, das wir jeden Abend aßen und das mutmaßlich nicht nur Sägemehl enthielt, sondern auch ein Pulver namens Bromid, so etwas wie ein Beruhigungsmittel, wodurch wir die Erinnerungen an unser Zuhause vergaßen. Woran immer es lag oder nicht lag, ich durfte weder für mich selbst noch für Miriam oder sonst irgendwen Mitleid empfinden. Ich durfte mich nicht als Opfer sehen, sonst würde ich umkommen, das wusste ich. Es war ganz einfach. Bei mir war kein Raum für irgendeinen Gedanken außer dem ans Überleben.
Nachts lagen Miriam und ich in unserem Stockbett zusammen mit zwei anderen Zwillingspaaren. Wir kuschelten uns eng aneinander, aber wir redeten oder flüsterten nicht. Hätte ich Miriam gesagt, wie hungrig und elend ich mich fühlte, es hätte alles nur schlimmer gemacht. Im Dunkeln hörte ich eine Pfeife, ein Auto oder ein Motorrad, das vorbeifuhr. Marschiergeräusche, Stöhnen, Erbrechen, Gebell und Weinen unterbrachen die Stille des Lagers – ein Orchester zur Untermalung des allgegenwärtigen menschlichen Leids.
Gelegentlich, wenn unsere Aufseherinnen schliefen, kam Frau Csengeri, unsere alte Freundin aus dem Nachbardorf, in unsere Baracke geschlichen, um ihre Töchter zu besuchen. Sie war eine intelligente, wortgewandte Frau. Bei ihrer Ankunft in Auschwitz hatte sie Dr. Mengele davon überzeugt, dass sie ihm behilflich sein könnte, indem sie ihm Informationen über ihre Zwillinge lieferte, und so hatte man ihr gestattet, in der Frauenbaracke zu wohnen. Frau Csengeri brachte ihren Kindern Essen, Unterwäsche, Mützen, Dinge, die sie mitgenommen oder »organisiert« hatte. »Organisieren« bedeutete in der Lagersprache, den Nazis etwas zu stehlen. Ich beneidete diese Mädchen darum, dass sie eine Mutter hatten, die noch am Leben war und sich um sie kümmerte; Miriam und ich hatten niemanden außer uns.
Ich konnte nicht mehr über Mama, Papa und unsere älteren Schwestern nachdenken. Ich musste mich um Miriam und mich selbst kümmern. Ich musste mir selbst immer und immer wieder vorsagen:
Nur noch einen Tag.
Nur noch ein Experiment.
Nur noch eine Spritze.
Nur bitte, bitte, lass uns nicht krank werden.
Sechstes Kapitel
Eines Samstags im Juli marschierten wir wieder zum Labor, und dort injizierte man mir etwas, das ein Krankheitserreger gewesen sein muss. Sie gaben die Spritze nur mir, nicht meiner Zwillingsschwester. Jahre später mutmaßten Miriam und ich, dass sie mich für die Spritze auswählten, weil sie beobachtet hatten, dass ich die Stärkere war.
Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass diese Injektion mich krank machen würde. In der Nacht bekam ich hohes Fieber. Mein Kopf dröhnte. Meine Haut war brennend trocken. Mein Körper zitterte so stark, dass ich trotz meiner Müdigkeit nicht schlafen konnte. Ich weckte Miriam.
»Ich bin s-sehr k-k-krank«, flüsterte ich ihr mit klappernden Zähnen ins Ohr.
Sie war sofort wach, sofort in Sorge. »Was sollen wir tun?«
»Ich w-w-w-weiß nicht«, sagte ich. »L-l-lass uns v-v-versuchen, es zu verheimlichen und so zu t-t-tun, als w-w-wäre alles in Ordnung.«
Am Montagmorgen, als wir uns draußen zum Zählappell aufstellten, war mir total schwindelig. Meine Arme und Beine waren mit roten Flecken übersät und auf ihren doppelten Umfang angeschwollen. Es tat so weh, dass ich dachte, ich müsste in meiner eigenen Haut explodieren. Ich zitterte vor Schüttelfrost. Die Sonne wärmte mich ein bisschen und ich versuchte verzweifelt, nicht zu zittern, damit die Pflegerinnen oder Krankenschwestern nicht bemerkten, dass ich krank war. Ich wollte nicht in den Krankenbau gebracht werden. Zweimal waren einzelne Zwillingsmädchen aus unserer Baracke erkrankt und in den Krankenbau gebracht worden. Sie kamen nie zurück. Die jeweiligen Schwestern waren dann auch weggeholt worden und ebenfalls nicht zurückgekehrt. Wir vermuteten, dass man bei jedem Zwillingspaar beide tötete, sobald die eine krank wurde. Ich durfte nicht zulassen, dass das Miriam und mir geschah. Warum sollte sie sterben, nur weil ich vielleicht sterben musste?
Unmittelbar bevor der Zählappell tatsächlich begann, gaben die Luftschutzsirenen einen lauten, durchdringenden Warnton von sich: Wir würden bombardiert werden. Mit bebender Freude sah ich die SS-Wachen Schutz suchen, während ein Flugzeug, auf dessen einen
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