Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
fort war. Den Nachmittag verbrachten wir mit Onkel Aaron und seiner Familie. Wir kamen überein, dass Miriam und ich in eines der Dörfer der Jugend-Alijah gehen würden, die von der israelischen Regierung eingerichtet worden waren. Die Dörfer waren auf riesigen Höfen angesiedelt, auf denen junge Leute wie wir Saatgut ausbrachten und ernteten und Tiere versorgten. Die Lebensmittel, die wir herstellten, halfen mit, die neue Nation Israel mit Nahrung zu versorgen.
In unserem Dorf arbeiteten wir halbtags und gingen halbtags zur Schule. Meine Aufgabe war es, Tomaten und Erdnüsse zu ernten und Kühe zu melken.
Miriam und ich lebten im Dorf mit ungefähr dreihundert anderen Jugendlichen aus vielen verschiedenen Ländern zusammen. Nicht alle jungen Leute waren Holocaustüberlebende wie wir. Manche lebten im Dorf, während ihre Eltern in der Berufsausbildung waren. Alle wurden bei der Ankunft Gruppen zugeteilt, und später wurden wir Freunde. Jedes Wohnheim hatte eine Hausmutter, aber wir selbst übernahmen die Verantwortung für unsere Zimmer. Erstmals, seit ich Auschwitz verlassen hatte, konnte ich ohne Albträume schlafen. Ich musste keine Angst mehr um unsere körperliche Unversehrtheit oder unser Überleben haben. Hier gab es keinen Antisemitismus, und man erlaubte, ja ermutigte uns, unser jüdisches Erbe zu zelebrieren. Unser Schmerz und unsere Verletzungen begannen in diesen Jugenddörfern langsam zu heilen.
Bei der Ankunft sprachen wir alle zwar unterschiedliche Sprachen, doch man lehrte uns eine gemeinsame Sprache: Hebräisch. Gleich am ersten Abend, den Miriam und ich im Dorf verbrachten, lernte ich ein paar Worte. Es war ein Freitag. An diesem wie an jedem anderen Freitagabend versammelten sich alle Kinder und Jugendlichen in einem riesigen Speisesaal und begrüßten den Shabbat, den jüdischen Sabbat. Auf den Tischen standen Kerzen und Wein. Wir alle trugen weiße Hemden. Miriam und mir wurden zwei Mädchen als »große Schwestern« zugeteilt, und sie kümmerten sich darum, dass wir uns in die Gemeinschaft aufgenommen fühlten.
Nach den Gebeten fing die große Runde an zu singen und die Hora zu tanzen. Ich wusste jedoch nicht, wie das ging. »Kann ich bei diesem Tanz mitmachen?«, fragte ich mich. Da fasste mich meine große Schwester an der Hand, Miriams große Schwester ergriff ihre, alle nahmen sich bei den Händen und bildeten einen Kreis. Wir tanzten rechtsherum. Ich kannte die Schritte nicht, aber ich bewegte mich mit. Die Arme hoch erhoben tanzten wir gemeinsam, Jungen und Mädchen, und sangen »Hava Nagila«. Lachend tanzten wir Runde um Runde, schneller und immer schneller. Ich tanzte die Hora und war voller Freude. Miriam und ich gehörten endlich zu einer neuen, großen Familie, die uns mit offenen Armen empfing.
Nachwort von Eva Mozes Kor
In Israel lebten wir zwei Jahre im Jugenddorf. Wir gingen den halben Tag zur Schule und arbeiteten den anderen halben Tag auf der Farm. Wir lernten rasch Hebräisch, wechselten innerhalb von zwei Jahren zügig von einer Klasse zur nächsten und schlossen zuletzt mit der zehnten Klasse ab. Miriam arbeitete auf dem Feld, ich war Melkerin. Ich arbeitete als einziges Mädchen mit sechs Jungen. Ich lernte, »Ich liebe dich« in zehn verschiedenen Sprachen zu sagen, etwas, das im Alter von sechzehn wichtig schien.
1952 wurden wir zur israelischen Armee eingezogen, wo Miriam sich zur Krankenschwester ausbilden ließ und ihren staatlichen Abschluss machte. Ich wurde nach der entsprechenden Ausbildung technische Zeichnerin und zeichnete Pläne von Bauwerken und Maschinen. Ich war in Tel Aviv stationiert und blieb acht Jahre in der israelischen Armee; dort erreichte ich den Rang eines Stabsfeldwebels. Es waren Jahre des Wachsens für mich. Ich wurde eine sehr gute technische Zeichnerin und erlebte, dass ich in der Lage war, mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Doch ich sehnte mich nach einem Zuhause und einer eigenen Familie.
Im April 1960 lernte ich einen amerikanischen Touristen kennen, Michael Kor, der seinen Bruder in Tel Aviv besuchte. Obwohl wir uns kaum miteinander verständigen konnten, heirateten wir einige Wochen später. Er hatte etwas auf Englisch zu mir gesagt; an jenem Abend schlug ich es nach und antwortete dann: »Ja.« Es war ein Heiratsantrag. Bevor ich mich versah, war ich eine verheiratete Frau und lebte in Terre Haute, Indiana, wo mein Mann Michael sich 1947 niedergelassen hatte. Er war nach dem Krieg gezielt dorthin gegangen, um in
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