Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
mache einen Tag Pause, andere laufen weiter oder haben ihren Zielpunkt für dieses Jahr erreicht.
Lauter nette Mitpilger bedeuten auch viele interessante Gespräche: Holly hat vor ein paar Monaten mit einer Freundin im von der Wirtschaftskrise schwer gebeutelten Dublin ein Café eröffnet. Ihr Jahresurlaub findet nun auf dem Camino statt. Zuvor hatte ihre Geschäftspartnerin ihren Urlaub mit der Hochzeitsreise verbunden, wie sie erzählt. Ob Holly auch auf Bräutigamschau ist? Die junge Single-Pilgerin sieht sich wohl Anfang 30 mit ihrer tickenden biologischen Uhr konfrontiert, habe ich den Eindruck. Hier laufen doch lauter nette Jungs rum, auch aus Irland…
Francois ist ein seltener Glücksfall aus der französischen Pilgerabteilung. Als pensionierter Physikprofessor aus der Nähe von Toulouse spricht er englisch und bereichert unsere Gespräche aus der Sicht eines Sohnes der Grande Nation. Immerhin machen die Franzosen die zweitstärkste Pilgergruppe nach den Spaniern aus. Viele Probleme sind in den Ländern aus aller Welt ähnlich, stellen wir fest: Ungerechtigkeiten im Finanzsystem, in den Sozialsystemen, Angst vor zuvielen Einwanderern und der Verlust guter alter Traditionen beschäftigen die Gesprächspartner. Für viele Menschen scheint sich die Welt zu schnell zu drehen. Ich nehme mich da nicht aus. Muss denn jeden Tag immer alles neu erfunden und verändert werden? Und wer um alles in der Welt braucht „Facebook“ oder so etwas?
Vielleicht ist das immer schneller rotierende Karussell des Alltags ein Grund für hunderttausende Pilger, den wenigstens zeitlich beschränkten Ausbruch zu wagen und - je nach innerem Kompass - auf diesem einmaligen Fernwanderweg mit kulturellen, religiösen und spirituellen Versprechungen eine weniger komplizierte Welt zu erleben? Laufen, schlafen, essen, Spaß haben - sehr viel mehr gilt es nicht zu organisieren. Terminhetze und Computerprobleme müssen draußen bleiben, wenn man es richtig macht.
Die in der Regel ungewohnte körperliche Belastung, die Zeit zum Nachdenken und Alleinsein sowie die Selbstbehauptung in fremder Umgebung haben bestimmt für viele hier ihre heilsamen Anteile. Manchmal erlebt man aber auch Pilger, die offensichtlich mit der Situation nicht so gut zurecht kommen: Mehrmals waren schon alleinreisende Pilgerinnen und Pilger mit einem fast schon gehetzten, irren Blick zu beobachten. Offensichtlich sind eine Menge Leute auch hier sehr unsicher und nervös. Ist das ein Teil des Problems, das siemitgebracht haben oder überfordert sie der Camino? Es ist sicher kein Zufall, dass so viele Pilger mit sozialen Berufen vom Sozialarbeiter bis zum Therapeuten unterwegs sind. Ist es für sie eine Form der Supervision, um neue Kraft für den Alltag oder einen Neuanfang zu schöpfen?
Chris, der Schweizer mit schweren Knieproblemen, hat eine Geschichte aus seinem wirklichen Leben parat, die einen staunen lässt. Der Jurist hatte in seinem letzten Job mit den Machenschaften einer machtvollen Finanzmafia zu tun, wie er berichtet. Als er zu sehr unter Druck geriet, ist er fluchtartig ausgestiegen. Burnout. Weglaufen. Der Camino ist nun Teil seines Weges hin zu Erholung und Selbstorientierung. Hoffentlich kommt er in seinem Zustand an seinem Ziel an.
Letztlich ist der Jakobsweg ja für fast alle von uns eine Ausnahme-, ja nicht selten eine Extremsituation mit einer Mischung aus körperlicher Hochbelastung, Schmerzen, Alleinsein oder gar Einsamkeit. Ob die nicht selten anzutreffende Hoffnung auf einen Weg in eine veränderte Zukunft für viele Pilger erfüllt werden kann, wage ich anzuzweifeln. Warum sollte etwas hier zu klären sein, was zuhause nicht funktioniert? Wer allerdings seine Ziele auf dem Camino erreichen kann, kommt mindestens mit einem bisschen Selbstbewusstsein für Veränderungen im realen Leben zurück. Hat man hier genug Zeit, um alle Wunden zu heilen?
Die Nacht im Vierbettzimmer in der modernen Herberge in Najera erinnert mich an Berichte über das berüchtigte Gefängnis „Bangkok Hilton“ in Thailand. Nach durchschnittlichem Pilgermenü in der Gaststätte zum guten Sänger haben Myra, Martin und ich früh die nötige Bettschwere erreicht. Das Mittagsschläfchen war in Anbetracht der räumlichen Enge und Unruhe in der Herberge spontan einem vertrödelten Nachmittag auf einer Terrasse mit Bierchen und Blick auf die über eine graue Brücke einlaufenden Pilger gewichen. Wenn wir die Menge der bepackten Wanderer im Laufe eines Nachmittags sehen,
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