Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
Nachbarin mit der schlimmstmöglichen Krankengeschichte denSchneid abkaufen will: „Aber unser Werner hat Krebs!“ Das Trumpf-Ass, gegen das kein auswendig gelernter Artikel der Apothekenumschau noch anstinken kann.
Wie aus dem Leib- und Magenblatt der deutschen Hypochondergesellschaft zitiert, werden auch heute Abend wieder Fleisch gewordene Krankenakten gewälzt: Cillian hat ein Konglomerat aus Schulter-, Hüft- und Blasenproblemen im Angebot, Malati hat es schwer im Knie. Krankheiten und Verletzungen sind das Hauptthema, weil in der uralten Herberge von 1044 - der ältesten am ganzen Camino, die heute noch in Betrieb ist - ein kostenfreier Physiotherapeut seine Sprechstunde anbietet. Der hat Malati unumwunden geraten, den Camino zu beenden. Sie habe orthopädische Probleme, bei ihren Füßen angefangen, mit denen sie nicht weitergehen sollte. Sie ist natürlich schockiert und niedergeschlagen von dieser Diagnose. Und sie will ebenso natürlich nicht so leicht aufgeben. Die erfolgsgewöhnte Inderin möchte erst einmal ein paar Bus-Etappen einlegen, ihren Bewegungsapparat so entlasten -und dann weiterschauen.
Cillian hat in der ganzen linken Körperhälfte Schmerzen. Knie, Hüfte und Schulter sind betroffen. Allerdings nicht von ungefähr: Er macht auch schon mal 40 Kilometer am Tag, schläft in den primitivsten Unterkünften und scheint ein bisschen rastlos zu sein. Der Physio nimmt ihn nachJahrtausende alter Tradition mit Streck-, Dehn- und Knochenkrachübungen in die Mangel. Wo sich normalerweise Vertrauen ausbreitet, wenn hilfreiche Hände die heilende Wende bringen sollen, ist bei den umstehenden Wartenden lähmendes Entsetzen zu spüren. Die Zahl der Schlange stehenden Patienten reduziert sich während Cillians Behandlung deutlich. Die entsetzten Gesichter wenden sich ab und verzichten auf die von mittelalterlichen Foltermethoden inspirierte Gratisbehandlung. Ihm gehe es jetzt aber besser, grinst er frech und rotgesichtig. Ich stelle fest: Pilgern ist nichts für Weicheier .
Seine Knochen sind wie eherne Röhren; seine Gebeine sind wie eiserne Stäbe. Hiob 40.18
12. Tag von Sto. Domingo nach Belorado
Das war heute ein wahrlich freudloser Marsch. Um 6.30 ging es in Domingo los, nachdem wieder einmal alle Habseligkeiten im Rucksack verstaut waren. Ich treffe mich mit Martin und Myra am Ortsausgang. Inzwischen ist es rund eine Dreiviertelstunde dunkel um diese Zeit, zumal heute der Himmel bewölkt ist. Taschenlampen blinken auf dem Camino, auch Martin hat eine LED-Funzel.Der Marsch wird schnell mühsam. Nicht nur, dass der Weg über viele Kilometer an Straßen entlangführt - ein starker Wind bläst uns die ganze Zeit frontal von Westen her ins Gesicht.
Selbst der Sonnenaufgang ist heute blass. Der Himmel ist grau, es ist ein paar Grad kühler und ich laufe mit Jacke. Der Camino ist immer wieder mit grobem, grauem Schotter bedeckt. Zu alldem kommt eine freudlos hingeklatschte, braunbeige Stoppelfeld-Szenerie rund um uns herum. Ein Vorgeschmack auf die angeblich landschaftlich reizloseste Woche vor uns - zwischen Burgos und Leon? Diese wenig motivierende Region ist der Beginn von Kastilien-Leon. Hier fehlt ein wenig die Inspiration von rechts und links.
Die trostlosen Dörfer, die wir etwa alle zwei Stunden durchqueren, sind an einem Sonntag wie heute fast ausgestorben. Viele Häuser stehen leer, viele sind gleich ganz verfallen. Fehlen nur noch diese vom Wind getriebenen Wanderbüsche, wie im Western. Mitten im Nichts begleiten uns aus einem fernen Wäldchen laute Kettensägengeräusche. Schlechte Menschen, die wir nun mal sind, entwerfen Martin und ich spontan das Drehbuch „Kettensägenmassaker auf dem Camino“. Damit können wir auch das plötzliche Verschwinden von Pilgern erklären, die man tatsächlich nie wieder sieht. Myra ist eher skeptisch, aber wir bleiben bei unserer These.
Mitten in diesem Nirgendwo steht dann aufeinem schmutzig braunen Stoppelfeld plötzlich eine einzelne, gelb leuchtende Sonnenblume aufrecht im Wind und strahlt uns an. Das sieht richtig schön aus. Wir faseln deswegen nicht gleich von einem spirituell wirkenden Zeichen von ganz oben, oder so. Es ist aber eine kleine Aufmunterung an die Pilger an diesem beschwerlichen Tag, finden wir.
Kaum eine Stunde später flucht Martin hinter mir los wie ein Rohrspatz: „That´s what I call a fucking bitch!“ Ich sag´s mal so: Sinngemäß übersetzt äußert er sein aufrichtiges Befremden. Seine Ausdrucksweise hier auf dem Camino
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