Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
von zwei Tagen passiert. Waren es hier mitten in derMeseta sommerliche Hitzschläge oder die Ergebnisse einer Dauer-Überforderung nach wochenlanger Belastung? Man mag sich kaum den Schock, die Panik und die verzweifelten Rettungsversuche der Mitpilger vorstellen, wenn hier im nordspanischen Nirgendwo bei einer Herzattacke schnelle Hilfe gebraucht wird. Ob das Rettungssystem so funktioniert, dass man eine Chance hat, oder warten die Herrschaften erstmal die Siesta ab, bevor sie den Krankenwagen in Bewegung setzen? Hoffentlich gibt es für den ehrenvollen Tod auf dem Pilgerweg ganz oben beim Chef wenigstens eine Gutschrift. Immerhin wären einem in Santiago ja alle Sünden erlassen worden. Vorausgesetzt natürlich, dass man überhaupt welche auf dem Kerbholz hatte.
Heute habe ich das große Glück, mit Xavier endlich mal einen englisch sprechenden Spanier zu treffen. Er humpelt eine Zeit lang böse vor mir her und verdreht seine Beine, ja seinen ganzen Körper, bei jedem Schritt. Eine Ausweichbewegung, um seine schmerzenden Blasen und Sehnen zu umgehen, wie sich herausstellt. Er ist 30 Jahre alt, stammt aus Burgos, und hat seinen Camino in St. Jean begonnen. Er hat ein Jahr in England studiert und spricht mit starkem Akzent, aber fließend, Englisch. Staunend erfahre ich, dass er in diesen Wochen sein ganzes Leben umkrempelt. Sechs Jahre lang hat er als Vertriebsmanager einer Weinfirma im Rioja gearbeitet - 16 Stunden amTag. Vier Jobs habe er gleichzeitig erledigt, erzählt er. Nach wiederholter erfolgloser Aussprache mit seinem Chef hat er dann vor ein paar Wochen völlig ausgebrannt und nach monatelangem Zaudern und Hin- und Herüberlegen gekündigt, sich zudem von seiner „komplett ignoranten“ Freundin getrennt, wie er das empfindet. Seiner Familie hat er dann mitgeteilt, dass er jetzt mal weg sei und auf dem Camino ein paar Wochen über seine Zukunft nachdenken wolle. Ich stelle mir die heillose Verwirrung vor, die ein solch radikaler Schritt bei seinen Freunden und Verwandten ausgelöst haben mag. Mut hat er jedenfalls.
Anfangs wollte Xavier sein bisheriges Arbeitsund Lebenstempo auf den Jakobsweg übertragen. Tagesetappen mit rund 40 Kilometern Strecke auf der Überholspur haben ihm dann recht zügig die Füße ruiniert. Jetzt ist er zwangsweise langsam und lernt gerade, die Landschaft und Natur, die Mitpilger und den Camino zu genießen. Wenn auch unter Schmerzen, wohl körperlich und seelisch. Aber er ist selig. Er fühlt sich frei, wie noch nie im Leben und ist voller Optimismus, trotz der spanischen Wirtschaftskrise wieder beruflich Fuß zu fassen. Was er künftig anfangen will, lässt er noch völlig offen. „Nur ausbeuten und einzwängen lassen, will ich mich nicht mehr“, strahlt er. Der Kerl hat Entschlusskraft und leuchtet dabei förmlich vor Anstrengung und Freude. Ein spanischer Befreiungskampf der ganz persönlichenArt auf dem Camino. Olé!
Beim Abendessen kriege ich dann fast einen Knoten ins Hirn: Ein Franzose namens Pierrot, fast ohne Englischkenntnisse auf der Erdoberfläche unterwegs, Jennifer aus Südafrika ohne Französisch und Deutsch und Andrea aus Köln mit wenig Englisch und ohne Französisch müssen sprachtechnisch zusammengeführt werden.
Englischfranzösischdeutsche Fragmente laufen Zickzack, bis jeder jeden verstanden hat. Oder auch nicht. Neben der babylonischen Sprachverwirrung sind es aber auch die kulturellen Unterschiede, die zu Verwirrung führen.
Pierrot, etwa 60 Jahre alt, der sich als Südfranzose alter Schule vorstellt, kann eine Weile unserem Gespräch trotz wiederholter Übersetzungsversuche nicht folgen. Wir unterhalten uns bei der zweiten Flasche Rotwein nämlich politisch korrekt darüber, dass wir zuhause nicht annähernd soviel Alkohol zu uns nehmen wie hier, wo der leckere Rote immer im Menü inklusive ist, und das kalte Bier nach einem langen, heißen Marschtag schon am Nachmittag den Durst stillt.
Trotzdem gibt es natürlich strikte Pilgerregeln auf dem Weg gen Santiago: Kein Bier vor dem Frühstück. Beim Wein gilt da eher Toleranz.
Irgendwann kapiert der Franzose, dass wir bei unserem gesundheitspolitischen Exkurs zum Thema Alkohol auch über Wein sprechen. „Oh non!“, belehrt er uns dann aufgeregt sachlich und todernst:„Wein ist doch gar kein Alkohol. Der ist gesund.“ Sein Großvater habe zeitlebens täglich zwei Liter des Rebensaftes getrunken - von morgens bis abends. Und so sei der Genießer erst mit 95 Jahren - und natürlich viel zu früh
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