Ich habe mich verträumt
nächsten Morgen fuhr ich früh zur Schule und ging geradewegs zum Rektor.
Ich war nicht früh genug gewesen.
„Grace, ich habe Sie erwartet“, begrüßte mich Dr. Stanton, als ich wie eine reumütige Schülerin vor seinem Schreibtisch Platz nahm. „Heute Morgen bekam ich einen recht beunruhigenden Anruf von Theo Eisenbraun.“
„Richtig.“ Ich merkte, dass ich anfing zu schwitzen. „Tja, also … Ich wollte es Ihnen selbst sagen, aber ich schätze, die Neuigkeit hat sich schon herumgesprochen. Ich habe einen neuen Freund, und er … äh … war wegen Veruntreuung im Gefängnis.“
Dr. Stanton seufzte. „Ach, Grace.“
„Dr. Stanton, ich hoffe sehr, dass meine Fähigkeiten für sich sprechen“, fuhr ich fort. „Ich liebe Manning, ich liebe die Schüler, und ich finde nicht, dass mein Privatleben Einfluss auf meine Beurteilung als Lehrkraft haben sollte. Oder als … äh … potenzielle Leiterin des Fachbereichs Geschichte.“
„Natürlich“, murmelte er. „Da haben Sie absolut recht. Wir schätzen Sie sehr, Grace.“
Tja. Wir beide wussten, dass ich in der Patsche saß. Falls ich je eine Chance gehabt hatte, Fachbereichsleiterin zu werden, war sie hiermit wohl verspielt. „Der Ausschuss berät sich diese Woche, Grace. Wir werden dann auf Sie zukommen.“
„Danke.“ Ich ging in mein winziges Büro in Lehring Hall und setzte mich in den alten Ledersessel, den Julian und ich auf einem Flohmarkt gefunden hatten. Verdammter Mist! Missmutig kaute ich an einem Fingernagel und starrte durchs Fenster auf den wunderschönen Campus hinaus. Die Kirschblüten wogten wie üppiger Schaum im Wind, als wären die Zweige mit rosa Schlagsahne besprüht. Die hübschen Blüten des Hartriegels schienen in der Luft zu schweben, und das Gras leuchtete smaragdgrün. Es war die schönste Zeit an der Manning. Nächsten Mittwoch endete das Schuljahr, und zwei Tage später fanddie Abschlussfeier statt. Am Tag vor Natalies und Andrews Hochzeit.
Fachbereichsleiterin zu sein wäre eine große Herausforderung für mich gewesen – immerhin war ich erst einunddreißig und hatte keinen Doktortitel in Geschichte. Hinzu kam, dass mir politisches Gebaren nicht besonders lag und ich kaum Erfahrung im Bereich Verwaltung hatte, abgesehen von meinem Vorsitz im Lehrplankomitee. Vielleicht hatte ich ohnehin nie eine echte Chance gehabt.
Trotzdem hatte ich es in die letzte Runde geschafft – was vielleicht aber nur eine Geste der Höflichkeit gegenüber einem Mitglied der Manning gewesen war. Falls jedoch mein Zusammensein mit Callahan O’Shea meine Chancen zunichtegemacht hatte … nun ja. Er war es wert. Hoffte ich. Nein, wusste ich. Wenn ein Verzicht auf die Stelle als Fachbereichsleiterin der Preis war, den ich dafür zahlen musste, dann war das eben so. Nach dieser Erkenntnis ließ ich meinen armen Fingernagel in Ruhe, setzte mich aufrecht hin und startete meinen Computer.
„Hallo Grace.“ Verschlafen blinzelte Ava mich von der Tür aus an, ein wissendes Lächeln auf den glänzenden Lippen. „Wie geht es dir heute Morgen?“
„Mir geht es wunderbar, Ava. In jeder Hinsicht. Und dir?“ Ich setzte ein munteres Lächeln auf und wartete.
„Wie ich hörte, warst du heute Morgen bei Dr. Stanton.“ Sie grinste. An einer Privatschule blieb nichts verborgen. „Ein Exhäftling als Freund, Grace? Kein besonders gutes Vorbild für die Heranwachsenden an der Manning, oder?“
„Tja, wenn wir hier Moral und Anstand bewerten wollen, dann schlägt es wohl das Ausgehen mit verheirateten Kollegen, oder? Darüber könnte man direkt streiten.“
„Das könnte man wohl“, murmelte sie. „Der Ausschuss tagt am Donnerstag, wusstest du das?“
„Wie ich hörte, haben die ihre Entscheidung bereits getroffen“, ertönte eine knurrige Stimme. „Guten Morgen, die Damen.“
„Guten Morgen, Dr. Eckhart“, sagte ich.
„Hallo“, hauchte Ava.
„Könnte ich Sie einen Moment sprechen, Ms Emerson?“, krächzte er.
„Bis dann“, flötete Ava und stolzierte mit schwingenden Hüften davon.
„Haben Sie es schon gehört?“, fragte ich Dr. Eckhart, als er in mein Büro kam.
„Ja, das habe ich, Grace. Ich bin hier, um Ihnen Mut zu machen.“ Er bekam einen Hustenanfall und hörte sich wie immer so an, als wollte er ein kleines Kind aus seinen Lungen pressen. Als er wieder zu Atem kam, hatte er feuchte Augen. „Grace“, sagte er lächelnd, „viele unserer Aufsichtsratsmitglieder sind selbst schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten,
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