Ich habe mich verträumt
Play. „Tony Bennett fordert Sie auf: Sing, you Sinners! Gracie, wir tanzen Jitterbug!“
Drei Tänze später setzte ich mich erhitzt und keuchend neben meine Großmutter. „Hallo Mémé.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die faltige Wange.
„Du siehst wie ein Flittchen aus“, zischte sie.
„Danke, Mémé! Du siehst heute aber auch hübsch aus!“, erwiderte ich laut.
Meine Großmutter war seltsam … ihr größtes Vergnügen war es, andere Leute fertigzumachen, aber ich wusste, dass sie auch stolz darauf war, dass ich herkam und alle mich mochten. Auch wenn sie nie ein nettes Wort sagte, hatte sie mich trotzdem gerne um sich. Irgendwo in ihrer alten verbitterten Seele, so dachte ich, gab es die „nette Mémé“, die ihre drei Enkeltöchter ganz bestimmt zumindest ein bisschen lieb hatte. Bislang hielt die „gemeine Mémé“ diese „nette Mémé“ allerdings gefesselt und geknebelt in irgendeiner Ecke fest, aber man konnte nie wissen, wann sie sie freigab.
„Was gibt es Neues, Mémé?“, erkundigte ich mich. „Was interessiert dich das?“, knurrte sie.
„Es interessiert mich eben. Und es würde mich noch mehr interessieren, wenn du hin und wieder mal nett zu mir wärst.“
„Wozu denn? Du willst doch sowieso nur mein Geld.“ Abfällig winkte sie mit der von Altersflecken übersäten Hand.
„Ich hätte gedacht, in den letzten zweihundert Jahren deines harten Lebens hättest du alles Geld so gut wie aufgebraucht“, antwortete ich.
„Tja, ich habe noch genug. Immerhin habe ich drei Ehemänner begraben, und worin liegt der Sinn der Ehe, wenn man kein Geld dabei gewinnt?“
„Das ist ja so romantisch, Mémé. Wirklich. Ich muss gleich weinen.“
„Ach, werd erwachsen, Grace. Eine Frau in deinem Alter hat keine Zeit zu verlieren. Und du solltest mir mehr Respekt erweisen. Sonst streiche ich dich noch aus meinem Testament.“
„Ich sag dir was, Mémé“, meinte ich und streichelte ihre knochige Schulter. „Nimm meinen Anteil und gib ihn aus. Unternimm eine Kreuzfahrt. Kauf dir ein paar Diamanten. Heuer einen Gigolo an.“
Sie schnaubte, sah mich aber nicht an. Stattdessen beobachtete sie die Tänzer. Vielleicht täuschte ich mich, aber es kam mir so vor, als würde ihr kleiner Finger im Takt zu Papa loves Mambo klopfen. Ich musste lächeln. „Möchtest du tanzen, Mémé?“ Schließlich konnte sie noch gut laufen – der Rollstuhl war eher Effekthascherei, außerdem konnte sie damit besser Leute anstoßen.
„Tanzen?“, schnaubte sie. „Mit wem denn, du Dummerchen?“
„Na ja, ich …“
„Wo ist dieser Man, von dem du immer sprichst? Hast ihn wohl vertrieben, wie? Das überrascht mich nicht. Oder hat er sich in deine Schwester verliebt?“
Ich fuhr zusammen. „Mein Gott, Mémé!“, stöhnte ich, während ich einen Kloß im Hals bekam.
„Ach, komm drüber weg. Das war doch nur ein Scherz.“ Sie sah mich verächtlich an.
Immer noch wie vor den Kopf geschlagen, stand ich auf und ließ mich von Mr Demming zu einem recht steifen Walzerauffordern. Mémé war der einzige lebende Großelternteil, den ich noch hatte. Meinen leiblichen Großvater hatte ich nie kennengelernt – er war der erste der drei Ehemänner gewesen, die Mémé zu Grabe getragen hatte, aber ich liebte ihn trotzdem, weil mein Vater so viele wunderbare Geschichten über ihn erzählt hatte. Mémés andere zwei Männer waren sehr nett gewesen: Grandpa Jake, der starb, als ich zwölf war, und Poppa Frank, der während meines Studiums verstarb. Die Eltern meiner Mutter waren kurz nacheinander gestorben, als ich auf der Highschool war. Auch sie waren sehr liebe Menschen gewesen. Dass mein einzig verbliebener Großelternteil unleidlich wie Kamelspucke war, betrachtete ich als grausame Ungerechtigkeit des Schicksals.
Als die Tanzstunde vorüber war, küsste Julian mich auf die Wange und verabschiedete sich. Mémé beobachtete uns wie ein Geier und wartete, dass ich sie wie eine treue Sklavin zu ihrem Apartment begleitete. Aus Erfahrung wusste ich, dass es keinen Sinn hatte, sie darauf hinzuweisen, dass sie meine Gefühle verletzt hatte. Sie würde es nur schlimmer machen, indem sie sagte, ich habe keinen Sinn für Humor, und dann würde sie meinen Vater anrufen und sich über mich beschweren. Resigniert packte ich die Griffe ihres Rollstuhls und schob sie langsam den Gang entlang.
„Edith“, sagte Mémé plötzlich laut, sodass eine verschüchtert aussehende alte Frau abrupt stehen blieb. „Das ist meine Enkelin
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