Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
vorsehen, wenn man da reinfährt. Paul hat das Auto an dem Abend geparkt, und seitdem ist keiner von uns damit unterwegs gewesen. Er hat millimetergenau rangiert.
Mit einer Klarheit, die mir den Atem verschlägt, fällt mir unser Gespräch wieder ein. »Was hast du alles getrunken?« Er hat etwas gemurmelt, ohne wirklich zu antworten, und es meiner Phantasie überlassen, die Lücken zu füllen. Ich glaube, dass Paul nüchtern war, berechnend nüchtern. Hat er mir etwas vorgespielt, als er vor meinen Augen umgekippt ist?
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürme ich die Treppe hinauf; ich verfolge ein neues Ziel. Paul ist ein Chaot, ein Messie vom Typ brillanter Kopf. Im Lauf der Jahre haben wir deswegen so manchen Streit gehabt; halb amüsiert, halb gelangweilt hören sich unsere Freunde meine Geschichten über seine Schlampigkeit an: Mantel in der Diele auf den Boden geworfen, Schuhe wie Stolpersteine über die Treppe verteilt. Einmal habe ich in einem Stapel Papier, den er zum Verbrennen neben den Kamin gelegt hatte, die Urkunde über unseren Grundbucheintrag gefunden. Nun aber zahlt sich das jahrelange Hinter-ihm-Herräumen aus – ich weiß, wo seine Sachen sind. Ich wühle im Wäschekorb – nichts. Ich untersuche jede einzelne Hose, nehme die Schuhsohlen unter die Lupe, gerate in Aufregung, als ich seine Arbeitstasche entdecke, doch selbst bei einer forensisch-gründlichen Durchsuchung finde ich darin nur Gehaltsabrechnungen, einen Vertrag, ein paar Pflaster und ein staubiges angebrochenes Päckchen Kaugummi. Als Nächstes nehme ich mir seinen schwarzen Wollmantel vor. Heute ist es mild draußen, deshalb hat er die Wachsjacke angezogen. Ich suche den Mantel nach Haaren ab, nach Blut, nach Spuren von einem Leben, an dem ich nicht teilhabe. Ich schnuppere daran. Nichts. Noch einmal gehe ich die Nacht Stück für Stück durch. Irgendetwas fehlt, etwas, das ich nicht benennen kann. Ein Sonnenstrahl teilt die hellgraue Wolke am Himmel und durchflutet das Wohnzimmer. Es war kalt in der Nacht; es hat sich angefühlt, als hätte der Winter uns noch fest im Griff. Paul fröstelt leicht. Sein Schal ist nicht da.
Siegesgewiss beginne ich die Jagd durch das gesamte Haus. Ich kenne hier jede Ecke, jeden Winkel, jede Delle; ich weiß, wie die Böden sich neigen und in welche Richtung Spielzeuge kullern, wenn sie herunterfallen; ich weiß, in welchen Ecken sich Staub sammelt und wo die Ameisen hereinkommen. Sollte er etwas versteckt haben, hat er nicht die geringste Chance. Anderthalb Stunden später, im Dämmerlicht des frühen Abends, sehe ich mich gezwungen, auf feindliches Gebiet vorzudringen. Ich gehe hinüber zum Schuppen. Dort herrscht peinliche Ordnung, ein krasser Gegensatz zu dem Chaos, in dem Paul auf der anderen Seite des Gartens mit mir lebt. Ich hebe ordentlich aufgerollte Knäuel Gartenschnur hoch, öffne den Rasenmäher, der gereinigt in der Ecke steht. Wenn er will, kann er ein vollkommen anderer Mensch sein. Dieser Gedanke spendet mir keinen Trost. Als ich an einem Harkenstiel ziehe, höre ich jemanden meinen Namen rufen.
Hinter unserem Garten fließt ein Kanal vorbei, mit einem Treidelpfad am gegenüberliegenden Ufer. Als wir uns das Haus das erste Mal ansahen, war Paul begeistert; der Kanal passte genau zu seinen Vorstellungen von glücklicher Kindheit – er wollte Josh das Angeln beibringen, Libellen beobachten, ein Boot anschaffen. Ich habe mich in das Haus verliebt – vor Wasser habe ich eher Angst, und ich war skeptisch, was mögliche Anlegerechte vor unserem Gartentor betraf. Am Ende hat Paul sich durchgesetzt, und wir haben das Haus gekauft. Es ist schon komisch, wie sich die Dinge manchmal entwickeln – heute bin ich diejenige, die den Kanal liebt: die kleinen Schiffe, die vorbeitrudeln, Plastikfässer an Bord und Wassergräser im Schlepptau; die bärtigen Männer in ihren Kähnen, die manchmal für zwei, drei Tage festmachen, bevor sie ihren Weg durch die alten Transportadern Englands fortsetzen; die Radfahrer, die hin und wieder vom anderen Ufer herüberwinken.
Ein paar staubige dürre Grashalme im Haar und auf den Schultern, trete ich aus dem Schuppen. »Hallo, Marcus!« Ein halbes Jahr nachdem wir das Haus erstanden hatten, haben wir auch einen Anlegeplatz gekauft, und Paul hat in Worcester ein Boot aufgetan. Seitdem liegt die Marie Rose vor unserer Gartentür im Wasser; eine Zeitlang war sie eine Art Forwood-Außenbüro, jetzt haben wir sie an Max und Marcus vermietet,
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