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Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Titel: Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bauermeister
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den vergangenen Jahren.
    Das Leck im Deich meiner guten Vorsätze war zu einem Dammbruch geworden. Und so, in diesen ersten sieben Tagen im Januar 1961, auf seinem großen Bett, erzählte und erzählte ich ihm – alles brach aus mir heraus. Als hätte die Flut der Gefühle, die er in mir geweckt hatte, alle anderen unterdrückten mit hervorgespült. Ich konnte Glück und Leid nicht voneinander trennen. Immer wieder lag ich in seinen Armen, immer wieder trocknete er meine Tränen. Was ich selbst meiner engsten Freundin verschwiegen hatte, er hörte es sich an. Meine unglückliche Beziehung zu Benno, den von seinen Wutattacken zu heilen ich vergebens versucht hatte. Meine Zeit 1944 in Kufstein in der Kinderlandverschickung, als man mich im Alter von zehn Jahren zu einer vierundsechzig Jahre alten Pflegemutter geschickt hatte, aufs Land, in kriegsfernes Gebiet. Sie hatte mich fast täglich verprügelt, doch ich war dadurch immer trotziger geworden. Und nach einem Jahr Leidenszeit hatte ich dann seltsamerweise doch so etwas wie Traurigkeit empfunden, als ich sie endlich verlassen durfte.
    Die Trauertränen erinnerten mich aber auch an die Glückstränen, die mir beim Jodeln in Österreich gekommen waren. Die Bergtouren, die ich mit meinem Bruder Martin bei seinen seltenen Besuchen unternehmen durfte, führten den Zahmen Kaiser hoch zum Stripsenjoch, wo wir aus vollem Hals gegen eine Steilwand ansangen. So fanden wir Trost in unserer Zweistimmigkeit, die durch die Echos von den Felsen zur Mehrstimmigkeit wurde. Wir zauberten uns sozusagen eine Familie herbei, eine Familie aus Nachhall und Echo, die man nicht wegbomben konnte.
    Dann mein Schicksal als Scheidungskind. Das Hin- und Her-Gereise zwischen Mutter und Vater über eine Distanz von sechshundert Kilometern. Wir Geschwister verloren durch die Austauscherei während der Ferien immer mehr den Kontakt zueinander. Unsere Großfamilie war zerstört. Ich fragte meinen Vater einmal, warum wir nicht alle zusammenleben konnten, er mit seinen beiden Frauen und wir fünf Kinder. Er antwortete: »Das geht in unserer Gesellschaft nicht, die christlichen Frauen haben das nicht gelernt.« Lange glaubte ich ihm, wenn er behauptete, Frauen seien von Natur aus monogam. Diese Meinung sollte ich erst später überdenken. Ich hatte die Scheidung meiner Eltern nie verstanden. Wie konnten sich Menschen trennen, die gemeinsam am Klavier so herrliche Lieder gesungen hatten wie »Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst …«?
    Und zwischendurch ging Karlheinz immer hinunter in die Küche und holte uns von dort etwas zu essen und zu trinken. Die zweistöckige Wohnung lag über der Wohnung des Vermieters, der nicht wissen sollte, dass ich im Haus war.
    Ab dem dritten Tag brach es dann auch aus ihm heraus, und wir weinten Tränen über sein Schicksal. Der Verlust seiner Mutter, nachdem man sie jahrelang in der Irrenanstalt Hadamar interniert hatte. Lange war sie schon schwermütig und stimmenhörig gewesen, sie sprach sogar mit dem Radio. Als sie eines Tages nach der Geburt ihres dritten Kindes Hausrat und Bettwäsche zum oberen Fenster hinaus auf die Straße warf, hatte der Vater sie in die Irrenanstalt einweisen lassen. Dort durfte Karlheinz sie als ältestes der Kinder besuchen. Immer wieder hatte er die gleiche Szene erlebt: Die Mutter wurde ins Besuchszimmer geführt, nahm ihn in die Arme, auf den Schoß, liebkoste ihn, begann zu weinen, beachtete ihren Mann nicht, der bedrückt und schweigend in der Ecke saß, weinte heftiger, bis sie zu schreien anfing. Dann wurde sie in die Zwangsjacke gesteckt und abgeführt. Stockhausen hat das später in seiner Oper Licht in einer erschütternden Szene festgehalten. Nach dem Besuch fuhren der Vater und er wieder nach Haus. Es war 1942, als der Vater dann ihre Asche abholen durfte. Angeblich hatte sie einen Lungenkollaps erlitten, in Wahrheit war es Euthanasie gewesen, Vernichtung »lebensunwerten Lebens« – es war ja während der Nazizeit. Zu Hause wartete die Haushälterin, die schon vor dem Tod der Mutter die zweite Frau seines Vaters geworden war, ihm zwei weitere Kinder gebar und die Familie versorgte.
    So erlebte Karlheinz in früher Jugend, was sich mit seinen späteren Frauen wiederholen sollte. Er hatte eine Mutter, die er liebte, nach der er sich sehnte, die aber unerreichbar war. Und eine andere Mutter, mit der er lebte und die die Kinder versorgte. Später, in seinem Mannesleben, hatte er eine Frau, nach der er sich

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