Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Telefon, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete. Jemand kam die Treppe herauf, es war Fleurop, der Blumendienst. Er brachte einen Strauß mit einem Liebesgedicht von Karlheinz. Ich legte mir die Worte im wahrsten Sinne ans Herz, steckte den Zettel in mein Hemd, stand am Fenster und blickte auf den Rhein. Da klingelte es wieder. Und von jetzt an jede Stunde, die Sträuße wurden immer größer, die Gedichte immer kürzer. Ich badete in Tränen und Träumen. Die Zeit schien zu rasen, aber doch zugleich stillzustehen. Gegen Abend der größte Strauß, der kleinste Zettel, als Notenzeile gezeichnet, mit jenen drei unsterblichen Worten, die den Höhepunkt des Geständnisses aller Liebenden zueinander bilden.
Alles verschwamm mir. Ich würde glücklich sein, wenn ich mich auf dieses neue Gefühl einließ. Gleichzeitig war ich verzweifelt, weil ich ahnte, dass von dem Moment an, wo ich mich ihm öffnete, das Ende vorprogrammiert war. Begann mit dem Glück auch ein Verhängnis? Vielleicht könnte ich dieses Gefühl trotz meines Geständnisses noch im Ungelebten lassen? Aber in mir zerrte etwas, das weder aus meinem Denken noch aus meinem Wollen kam, etwas Irrationales, es zerrte in mir und zog mich zu ihm wie ihn zu mir.
Spätabends dann stand er vor der Tür. Ich ließ ihn ein, aber nur bis in den Flur. Warum schlug mein Herz so wild und doch widersprüchlich, voller Aufregung ihm entgegenfiebernd und doch mit schlechtem Gewissen seiner Frau gegenüber? Es war wie in einer archaischen Tragödie. Durfte diese Liebe gelebt werden? Und mit welchen Opfern! Wie viele Opern, Dramen, Verse erzählen von solchen Opfern. Schon fühlte ich die imaginären Schattenwürfe dieser Opferungen, wie lebende Wesen kamen sie mir vor. Sie würden ihren Tribut einzuholen wissen. Glück um Unglück, Freude um Trauer, Seligkeit um Verzweiflung – der Handel muss aufgehen, stets.
Während ich all dies ahnte, standen wir im Flur. Mir kamen Assoziationen an andere Lieben, verbotene oder gesegnete, Bilder von ganz jungen, unberührten Menschen, die zueinanderfanden im natürlichsten Sinne, ohne Belastungen, Erinnerungen und Enttäuschungen. Ich fühlte mich uralt. So viel hatte ich in den vergangenen sieben Jahren schon an Traurigem durchlebt! Wie gerne wäre ich noch unschuldig gewesen an diesem Abend im engen Flur meines Lintgassenateliers. Mit solch innigen Gefühlen hätte meine erste Beziehung auch beginnen sollen. Doch meine Entscheidung damals war eine Kopfentscheidung gewesen, und nichts hatte dabei gestimmt.
Karlheinz und ich standen uns gegenüber mit ein wenig Licht von der Flurlampe, gerade genug, um den anderen zu erkennen, und doch dunkel genug, um sich nicht auszuliefern, nicht zu verraten. Wir gaben noch nicht alles preis. Und all unsere Gefühle und Sehnsüchte lagen im Widerstreit mit unserem schlechten Gewissen.
Warum nahm ich das überhaupt wahr? War das ein Privileg oder ein Fluch? Das sollte ich mich noch unzählige Male fragen während der vor uns liegenden elf Jahre gemeinsamer Liebes- und Leidenszeit. Jedenfalls konnte ich nicht behaupten, ich hätte nicht gewusst, was ich tat.
Nur unsere Hände berührten sich. Wir lehnten an der Wand und sahen uns schweigend in die Augen. Dann, inzwischen setzte schon das Morgengrauen ein, ging er langsam, behutsam hinaus. Ich stand an der Tür und fühlte ihm und der Intimität unserer gerade verlebten Stunden nach. Ob wir uns je wiederbegegnen würden? Es lag an mir. Ich könnte weggehen. Wohin? Egal, nur fort! Ich könnte das Leck in meiner Deichmauer flicken, es war wohl noch reparierbar.
Auf einmal klingelte es. Es war das Klingelzeichen, das Benno und ich immer benutzt hatten. Benno, der aber doch inzwischen fünfhundert Kilometer weit entfernt in Paris lebte. Ich wachte auf aus meinem Halbtraum. Noch einmal die Klingeltöne, ich drückte den automatischen Türöffner. Aber niemand kam die Treppe herauf. Ich lief die Treppe hinunter auf die verschneite Straße, doch dort waren nur ein paar Fußspuren von Karlheinz zu sehen, der vorhin das Haus verlassen hatte. Kein Benno. Aber wer hatte geklingelt? Verlor ich den Verstand?
Zu müde, um weiter zu rätseln, legte ich mich hin und fiel rasch in einen tiefen Schlaf. Ich wachte erst nachmittags auf, schaute auf mein in den letzten Tagen angefangenes Bild – abstrakt, monochrom, konzeptionell, klar und eindeutig. Ich begann zu arbeiten. Wieder einmal überfiel mich dieser Schaffensdrang, dem ich dann nie ausweichen konnte.
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