Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Gehörtem, was sich nicht in Halbtonschritten festhalten ließ. Ich bemerkte also, dass Stockhausen träumte. Er quälte sich durch irgendetwas hindurch und warf seinen Kopf hin und her. Ich beschloss, ihn aus diesem Albtraum zu befreien, und weckte ihn behutsam. Er stammelte, und dann brach es aus ihm hervor, fast wie ein Hilferuf: »Ich hänge im Triolengitter!« Sein Kopf war im Traum wie eine Note im System der Notenlinien gefangen gewesen, und er hatte große Mühe mit dem Versuch der Befreiung.
Am nächsten Morgen konnte er sich wieder an nichts erinnern, ich hatte aber diesen Traum auf einen Zettel notiert. Nun hatten wir reichlich zu beraten. Welche Befreiung aus welchem Gitter? Ich schlug vor, die Befreiung aus konventioneller Notationsweise. Er meinte, vielleicht deute die Triole auf einen Konflikt hin. In der Triole werden ja drei Noten in die Zeiteinheit von zwei Noten gedrängt. Drei, wir drei, Doris, Mary, Karlheinz. Und während wir noch nachsannen über uns drei, kam ein Telegramm von Doris: Sie war sehr krank und musste operiert werden.
Karlheinz beschloss heimzufahren und ihr beizustehen. Die beiden verbrachten eine ruhige Zeit im Schwarzwald, wohin Doris zur Rehabilitation gefahren war. Eine Freundin kümmerte sich um die Kinder. Ich selbst blieb noch bis Mitte Mai in Siculiana, um meine Bilder fertigzustellen. Stockhausen schrieb mir jeden Tag einen Brief nach Sizilien, und ich schrieb ihm jeden Tag zurück. Das würden wir noch jahrelang so halten, jeden Tag, an dem wir nicht zusammen waren. Ich ließ ihn an meiner Bildherstellung teilhaben, er schlug mir Titel vor. So entstanden die Werke Kreise balanciert , Flächen gefaltet , Felder und Zentren, Rechts draußen oder die Sand-Stein-Kugelgruppe – alles Arbeiten für den großen Saal in Sandbergs Stedelijk Museum. Und in einem seiner Briefe, am Dienstag nach Ostern 1962 geschrieben, hieß es: »Deine Briefe – vorgestern las ich und gestern morgen noch einmal alle –, wie gut Du schreiben, erzählen kannst! Du musst einmal Märchen schreiben und für uns beide – von uns beiden – eine große, nicht enden wollende Geschichte für alle Liebenden der Welt.«
Während unserer drei gemeinsamen Monate in Sizilien, nach denen ich noch zwei weitere allein dort zubrachte, stand die Arbeit im Vordergrund, doch wir nahmen auch Anteil am Leben der Menschen um uns. Die Verhältnisse dort waren damals noch sehr altertümlich und rückständig, fast mittelalterlich anmutend. Die Contadini, die Bergbauern, ritten auf dem Esel in die Felder, die Frau ging zu Fuß hinterher mit dem Korb auf dem Kopf, der Hund lief unter dem Esel in dessen Schatten. Als ich nun ohne Karlheinz im Palazzo lebte, wurde ich von den Einheimischen belauert, denn, so erklärte mir Gina, in Sizilien war man davon überzeugt, dass eine Frau niemals allein leben könne, ohne untreu zu werden.
Ich ging nicht aus, und als ich auf dem Klavier die »Mondnacht« spielte und dazu sang, hatte sich unten auf dem Hof ein Häuflein Menschen versammelt, die zu mir hochblickten. Der bucklige Filippo, der Türhüter des Schlosses, hatte sie eingelassen, damit sie die Signorina spielen hören konnten. Sie merkten also, dass ich keine Hure war, und sogleich wurde ich zur Heiligen erkoren. Hier zeigte sich: Lebte man anders als die Menge, wurde man als Hure oder Hexe abgestempelt, ins »Unten« befördert, und wenn das nicht griff, dann gab es nur noch die andere Lösung: Man wurde hochstilisiert. Denn auf Augenhöhe ertrug man den ungewohnt Handelnden nicht, das hätte ja zum Nachdenken über die Normen gezwungen, nach denen man selbst lebte, vielleicht gar zum Aufbegehren gegen diese Normen. Nur keine Änderung, das Altbekannte, daran sollte man sich hier halten.
So bewunderte mich das Dorf von nun an. Gina hielt mich auf dem Laufenden über alles, was geschah, und erzählte mir von den Zwängen, unter denen die Frauen standen. Sie durften zwar vor ihrer Haustür auf der Straße sitzen, aber immer nur gemeinsam und immer nur mit dem Rücken zur Straße. Da die sizilianischen Frauen drei Jahre lang Trauer trugen nach dem Tod jedes Verwandten, auch des entferntesten, waren ab einem bestimmten Alter fast alle Frauen in Schwarz gekleidet. So wirkten sie vor ihren Häusern wie Scharen von zusammengedrängten Krähen. Und wenn der Mann verreiste, passte die Mafia auf die Frau auf.
Noch gab es Männer im Dorf, in späteren Jahren würden es immer weniger werden. Viele zogen als Fremdarbeiter
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