Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Augen noch tagelang. Nun wurden alle Einwohner des Dorfes zusammengetrieben und ihm vorgeführt. Er sollte jene identifizieren, die ihn bewacht hatten. Kurz hätte er wohl die Versuchung zur Rache verspürt, sich dann aber an den Verrat der ganzen Hofbelegschaft daheim erinnert. Er dachte an die Freundschaft zu den Bewachern, und zum Dank dafür, dass sie ihn nicht im letzten Moment erschossen hatten, schwieg er, ging von einem zum anderen und behauptete, von all diesen habe er bisher nur die zwei gesehen, die ihn zur Zeit seiner Befreiung bewacht hatten.
Er brauchte Monate, um zu genesen. Aber die Mafia dankte ihm zeit seines Lebens, dass er dichtgehalten hatte. Wenn er für irgendetwas Hilfe benötigte, war sie zur Stelle, zum Beispiel bei der Organisation eines Konzerts, von dem er uns nun berichtete.
Agnello war beseelt von der Idee, das alte Sizilien aus seinem Todesschlaf zu erwecken, er wollte es wieder zu einem blühenden Mittelpunkt der Kultur machen, im Gedenken an Friedrich II. von Hohenstaufen, der als Herrscher im 13. Jahrhundert die Insel zu einem kulturellen Zentrum des Abendlandes erhoben hatte. Als Organisator des musikalischen Geschehens hatte Francesco Ende der Fünfzigerjahre ein Konzert mit experimenteller Musik geplant, unter anderem mit Cage und Stockhausen im Programm. Er wollte den radikalen Neuerern der Musik die Bühne bereiten, denn in weiten Teilen Europas und in den USA wurden ihre Konzerte damals noch ausgebuht. Als Schauplatz des Geschehens war die antike Tempelstadt Agrigento vorgesehen.
Das Konzert fand im Sommer unter freiem Himmel statt, oben beim Haupttempel. Die Musiker waren schon versammelt, der Dirigent suchte nach dem Ort des Konzerts. Wieso war nichts vorbereitet? Was war hier los? Blicke zum Hori zont, von wo sich eine Kolonne mit Lastwagen und Bussen den Hügel heraufbewegte. Als sie oben ankam, luden Helfer aus den Lastwagen Stühle und Bänke, Notenpulte und Fackeln für den späteren Abend aus. Aber wo war das Publikum? Man spielte doch nicht vor leeren Bänken? Da kamen Busse und entließen Mengen elegant gekleideter Menschen. Die Bänke und Stühle füllten sich, das Konzert konnte beginnen.
Die italienischen Musiker gaben ihr Bestes. Niemand buhte oder protestierte, wie anderswo manches Mal zuvor, und was niemand für möglich gehalten hatte: Es gab tosenden Beifall. Was nirgendwo in Europa gelungen war, hier im bäuerlichen Sizilien schien der Boden bereit für die neue Musik! Die Presse verbreitete die Nachricht von dem Riesenerfolg. Im Norden Italiens, aber auch in Deutschland gab es Beschämung, das hatte man dort nicht fertiggebracht, und Francesco war selig. So hatte sich sein Nichtverrat der Mafia ausgezahlt. Sie hatte es ihm mit ihrer Hilfe gedankt, hatte im Hintergrund alles Nötige arrangiert, um das Konzert gelingen zu lassen.
Als ich im Mai 1962 in Siculiana mit den Arbeiten für die Amsterdamer Ausstellung fertig war, ließ ich meine Objekte von einem Schreiner in Kisten verpacken, vom Spediteur abholen und nach Köln verschicken. Ich selbst fuhr mit dem Zug zurück, gerade rechtzeitig, um dort die Uraufführung der Momente am 21. Mai mitzuerleben.
Welch ein Erfolg! Ich musste zurückdenken an die Uraufführung von Kontakte und daran, wie unglücklich Stockhausen damals gewesen war. Das lag nur zwei Jahre zurück. Hier nun am Abend der Uraufführung gab es zunächst auch einige Überraschungen. Stockhausen betrat als Dirigent den Saal, ging zum Pult, verließ es aber kurz darauf wieder, um dem schon zu Beginn des Konzerts wie gewohnt rebellierenden Publikum zu signalisieren: »Entweder ihr hört zu, oder ich breche ab.« Es entstand einiger Aufruhr, Musikliebhaber, die teils von weit her gekommen waren, um zu hören, was Stockhausen mit Momente Neues zu bieten hatte, machten nun ihrerseits ihren Anspruch geltend. Stockhausen hatte ja bereits 1961 in Darmstadt von seiner neuen Kompositionsmethode gesprochen. Der Tumult ebbte schließlich ab. Stockhausen erschien wieder am Dirigentenpult, wurde erneut begrüßt, mit Applaus.
Doch jetzt begannen die Sänger auf der Bühne ebenfalls zu klatschen. Es zeigte sich aber, dass dieses Antwortklatschen zur Aufführung gehörte, es rhythmisierte sich schließlich und wurde so vom zufälligen Geräusch zum gestalteten.
Die Hauptperson des Abends war die schwarze Sängerin Martina Arroyo. Sie interpretierte das Stück auf exzellente Weise und erfüllte mit ihrer Präsenz und Ausstrahlung den Saal. Ich war
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