Ich hasse dich - verlass mich nicht

bieten, zu vertrauen. Jochen muss Patrizia mitteilen, dass er sich der schrecklichen Ängste, die sie durchmacht, bewusst ist, dass er weiß, wie schlimm es für sie ist, allein zu sein.
    In den Wahrheitserklärungen muss versucht werden, die gespaltenen Teile wiederzuvereinen. Jochen muss erklären, dass er Patrizia die ganze Zeit über mag, selbst wenn er durch sie frustriert ist. Er muss auch erklären, dass er sich nicht missbrauchen lässt. Eine Kapitulation vor ihren Forderungen würde nur in weitere Forderungen münden. Patrizia einen Gefallen zu tun und sie zu befriedigen, ist eine unmögliche Aufgabe, denn sie ist nie zu Ende – es werden immer neue Unsicherheiten entstehen. Die Wahrheit wird wahrscheinlich eine länger andauernde Therapie für beide notwendig machen, wenn ihre Beziehung von Dauer sein soll.
    Der Zorn der Unschuld
    Borderline-Zorn ist durch seine Unvorhersehbarkeit und Intensität oft schrecklich. Er kann durch relativ unbedeutende Ereignisse ausgelöst werden und ohne jede Vorwarnung auftreten. Er kann sich gegen bisher geschätzte Menschen richten. Häufig begleitet die Androhung von Gewalt diesen Zorn. All diese Züge unterscheiden den Borderline-Zorn vom normalen Zorn.
    Innerhalb kürzester Zeit konnte sich Patrizia von einer fügsamen, abhängigen, kindlichen Frau in eine fordernde, schreiende Hexe verwandeln. Einmal schlug sie Jochen vor, mit ihr irgendwo gemeinsam zu Mittag zu essen. Aber als er ihr erklärte, dass er ins Büro gehen müsse, schrie sie ihn an und sagte ihm direkt ins Gesicht, dass er sich nie um ihre Bedürfnisse kümmere. Sie griff seine Männlichkeit an, klagte über sein Versagen als Vater und Ehemann und über seinen Beruf. Sie drohte, ihn vor der Anwaltskammer wegen standeswidrigen Verhaltens anzuklagen. Wenn Jochens Versuche, Patrizia zu beruhigen, nichts fruchteten, verließ er still die Szene, was sie nur noch rasender machte. Aber wenn er wieder nach Hause kam, verhielten beide sich so, als sei nichts geschehen.
    Die SET-UP-Grundsätze müssen sich an erster Stelle mit Sicherheitsfragen befassen. In dem oben beschriebenen Szenario sollten Jochens Botschaften für Unterstützung und Mitgefühl an erster Stelle stehen, obwohl Patrizia sie wahrscheinlich als unehrlich zurückweisen wird. In diesem Fall wäre es unklug von Jochen, ihr weiter klarmachen zu wollen, dass er sich Sorgen um sie macht und weiß, dass sie erregt ist. Er muss sofort zu Wahrheitsaussagen übergehen, die zunächst gebieten müssen, dass sie einander keinen körperlichen Schaden zufügen werden. Er muss fest darauf bestehen, dass sie sich zurückzieht, um etwas körperliche Distanz zu gewinnen. Er kann erklären, dass er sich ruhig mit ihr unterhalten will. Wenn sie dies nicht zulässt, kann er sagen, dass er geht, bis die Situation sich etwas beruhigt hat, sodass sie die Diskussion zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufnehmen können. Er muss versuchen, jeglichen Körperkontakt zu vermeiden, trotz der Provokationen durch Patrizia. Obwohl sie möglicherweise unbewusst möchte, dass Jochen sie körperlich überwältigt, basiert dieses Bedürfnis auf schädlichen Erfahrungen in der Vergangenheit und würde später wahrscheinlich eingesetzt werden, um ihn noch heftiger zu kritisieren.
    Wahrheitsaussagen, die bei Streitigkeiten gemacht werden, sollten sich besser auf die zugrunde liegende Dynamik richten und nicht auf spezielle Ursachen dieses Streits. Die weitere Diskussion darüber, ob es wichtiger sei, mit Patrizia zum Mittagessen zu gehen statt ins Büro, wäre wahrscheinlich nicht produktiv. Jochen könnte jedoch Patrizias offensichtliches Bedürfnis nach Streit und ihren möglichen Wunsch nach Überwältigung ansprechen. Er könnte ihr Verhalten auch als Bedürfnis nach Zurückweisung interpretieren. Hat sie so starke Angst vor erwarteter Zurückweisung, dass sie sie heraufbeschwört, um »es hinter sich zu bringen«? Die wichtigste Wahrheitsaussage lautet, dass dieses Verhalten Jochen abstößt. Er könnte fragen, ob das wirklich Patrizias Wunsch ist.
    Das Bedürfnis nach Konstanz
    Alle Wahrheitsaussagen müssen auch tatsächlich wahr sein. Für die Borderline-Persönlichkeit, die bereits in einer Welt voller Widersprüche lebt, ist es viel schlimmer, leere Drohungen über die Konsequenzen einer Handlung zu machen, als es passiv zuzulassen, dass unangemessenes Verhalten weiter fortgesetzt wird. Im populären Film Eine verhängnisvolle Affäre (1987) beispielsweise zeigte Alex Forrest,