Ich, Heinrich VIII.
anders. Ihr Zauber war ehrlich, und ihre Gedanken und Taten waren es auch. Dafür musste sie leiden, während es Eurer Hexentante glänzend erging. Ehrlich ist man selten ungestraft, und wie Ihr wisst, war Eure Mutter im Leben nicht auf Rosen gebettet. Er hätte Euch anerkannt, und vielleicht auch Euren Bruder (obgleich er sich da seiner Vaterschaft nicht so sicher war), hätte die Hexe ihn nicht daran gehindert. Sie war eifersüchtig, höchst eifersüchtig auf Eure liebreizende Mutter, obschon sie dem König, weiß Gott, selber reichlich Grund zur Eifersucht gab. Die Bewunderung der ganzen Welt war der Hexe nicht genug; sie musste auch die Dienste sämtlicher Männer bei Hofe für sich in Anspruch nehmen. Nun, wie sie selbst sagte, als dem König die irdischen Ehrungen für sie ausgegangen waren, schenkte er ihr die Krone des Märtyrertums. Ha! Nicht alle, die er tötete, sind Märtyrer. Sie versuchte, sich mit Thomas Becket in eine Reihe zu stellen, ja, selbst mit Thomas More, aber es sollte nicht sein. Sie ist gescheitert in ihrem Streben nach posthumer Ehre und Verherrlichung.
Und nun nehmt dieses Tagebuch und macht Euren Frieden mit Euch selbst. Wenn Ihr es nicht könnt, verwahrt es für Eure … Verwandte, die Prinzessin Elisabeth, bis zu jenem Tag, da sie … doch auch ich darf mehr nicht sagen. Es ist gefährlich, und selbst für meinen runzligen alten Hals ist das Gefühl eines Stricks nicht eben verlockend. Ich kann es ihr jetzt nicht in die Hände legen, wenngleich sie, wie Ihr deutlich gemacht habt, offenbar als Zweite infrage kommt. Sie ist von Spionen umgeben und wird dauernd bewacht. Maria möchte sie wieder in den Tower werfen und dafür sorgen, dass sie nie mehr zum Vorschein kommt.
Wie ich in den Besitz des Tagebuchs gelangte, das trug sich so zu: Als Harry, der König, mich das erste Mal sah, war ich, wie Ihr wisst (oder auch nicht; wie kommen wir dazu, stets anzunehmen, unsere private Geschichte sei von allgemeiner Bedeutung und bei jedermann bekannt?), mit meinem Herrn, einem Wollhändler zu Calais, zufällig bei Hofe. Ich war kein Narr damals – nur ein junger Mann, der sich eine Stunde in den Gängen zu vertreiben hatte. Ich vergnügte mich, wie ich es zu tun gewohnt war, wenn die reizvollere Beschäftigung mit Sherry oder Wein mir verwehrt war: Ich redete. Der König hörte mich, der Rest, wie das gemeine Volk sagt, ist Geschichte. (Wessen Geschichte?) Er nahm mich in seine Dienste, gab mir eine Schellenkappe, band mich an sich auf mehr Arten, als mir damals bewusst war. Wir wurden zusammen alt; aber hier muss ich niederschreiben, was der junge Harry war: das Auge der Sonne, das uns alle blendete … ja, sogar mich, den zynischen Will. Wir waren Brüder; und als er im Sterben lag in jener stickigen Kammer zu Whitehall, da war ich der Einzige, der ihn als jungen Mann gekannt hatte.
Aber ich schweife ab. Ich sprach vom Tagebuch. Als ich 1525 zu Harry kam (kurz bevor die Hexe ihn in ihren Bann schlug), führte er eine Art Journal mit rohen Notizen. Als er später – nachdem Catherine Howard, seine fünfte so genannte Königin, in Ungnade gefallen war – so krank darniederlag, begann er mit einem persönlichen Tagebuch, um sich die Zeit zu vertreiben und um sich abzulenken, von den Schmerzen in seinem Bein, die ihn tagaus, tagein plagten, und auch von der wachsenden Zwietracht rings um ihn her. O ja, Tochter – er merkte, dass ihm die Zügel entglitten. Er wusste, dass sich ringsumher Parteien bildeten, die nur darauf warteten, dass er sterbe. Und so schlug er um sich – in der Öffentlichkeit, und insgeheim schrieb er alles auf.
Gegen Ende konnte er alles nur noch in groben Zügen notieren; später wollte er (der ewige Optimist) diese Notizen dann ausarbeiten. (Ja, nur einen Monat vor seinem Tode bestellte er für seine Gärten Obstbäume, die frühestens in zehn Jahren Frucht tragen würden. Welche Ironie: Wie ich hörte, haben sie voriges Jahr geblüht, und Maria hat sie umhauen lassen. Wenn sie unfruchtbar sein muss, dann hat der königliche Garten zwangsläufig die königliche Person nachzuahmen.) Er hat sie nie ausgearbeitet, und er wird es nun auch nicht mehr tun. Ich habe sie, wie alles andere, mit eigenen Aufzeichnungen und Erläuterungen versehen. Ich zögerte zunächst, das Tagebuch zu entstellen, aber als ich es las, war es, als hörte ich Harry wieder reden, und es war stets meine Art, ihn zu unterbrechen. Alte Gewohnheiten sind hartnäckig, wie Ihr seht. Aber so gut ich ihn
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