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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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hob.
    Sie zwang ihren Kopf wieder auf den Block hinunter und lauschte mit jeder Faser ihres Körpers nach den Bewegungen des Henkers. »Jesus Christus empfehle ich meine Seele, Jesus Christus empfehle ich meine Seele, o Gott, erbarme Dich meiner Seele, o Gott, erbarme Dich …«
    Wir sahen, wie der geschickte Franzose seinen Gefährten zu Annes Linken ein Zeichen gab. Sie setzten sich in Bewegung und näherten sich ihr.
    »… – meiner Seele. O Gott …« Sie zuckte nach links und gewahrte die Gehilfen, die auf sie zukamen. Sie starrte sie noch an, den Kopf leicht nach links gewandt, als der Scharfrichter zuschlug. Die dünne Klinge sauste in blitzendem Bogen außerhalb ihres Gesichtsfeldes herab. Sie durchschnitt ihren schlanken Hals wie ein Fleischerbeil einen Rosenstiel – erst leiser Widerstand, ein Knirschen, dann ein glatter Schnitt.
    Der Kopf fiel ihr von den Schultern wie eine Scheibe von einer Wurst und landete – plop! – im Stroh. Ich sah den durchtrennten Hals: Ein Querschnitt von Röhren, sechs oder sieben Stück, wie auf einer geometrischen Zeichnung. Dann begann aus zwei oder drei der Röhren Blut zu sprudeln, denn Annes Herz pumpte noch. Hellrote Blutfontänen spritzten wie Milch aus einem obszönen Euter – selbst das Geräusch war das gleiche. Es spritzte und spritzte. Warum war noch so viel Blut in ihr?
    Ihre Hände hingen schlaff neben dem Block herunter. Der geschmeidige Franzose trat vor und wühlte im Stroh nach dem runden Gegenstand, der Annes Kopf war. Er war zwei oder drei Fuß weit nach links gefallen. Der Henker hielt ihn an den langen, glänzenden Haaren in die Höhe.
    Die Kanone dröhnte einmal oben auf der Mauer.
    Sie sah noch genauso aus wie im Leben. Die Augen bewegten sich, und es schien, als schauten sie betrübt auf den blutenden Körper, der unten vor dem Block kniete. Die Lippen bewegten sich. Sie sagte etwas …
    Die Reihen der Zeugen zerstoben; die Leute suchten sich vor diesem unbegreiflichen Grauen in Sicherheit zu bringen. Keiner, der es wagen würde, dem König von diesen letzten Augenblicken zu berichten; und ich würde es gewiss auch nicht tun.
    Alles zerstreute sich; der abgetrennte Kopf (der Scharfrichter war ebenfalls davongelaufen) und der ausgeblutete Körper blieben auf dem Schafott zurück.
    Der König hatte keinen Sarg bereitstellen lassen.
    Am Ende fanden ihre Kammerfrauen eine leere Pfeilkiste im Keller der königlichen Gemächer. Sie war zu kurz für einen normalen Menschen, aber für einen enthaupteten Rumpf würde es reichen, wenn man den Kopf dazustopfte. Sie wickelten den erkaltenden Leib mit dem von gerinnendem Blute verklebten Halsstumpf in das schwarze Tuch, das der Franzose so höflich zur Verfügung gestellt hatte, und bestanden darauf, dass der Sakristan von St. Peter-ad-vincula das frische Grab George Boleyns noch einmal öffnete und den behelfsmäßigen Sarg auf den seinen hinabsenkte.
    Es gab keinen Gottesdienst, kein Begräbnis. Annes Überreste mussten buchstäblich für sich selber sorgen.
    Heinrich VIII.:
    Außerhalb der Mauern von London war das Land noch so wild, wie es in den Tagen Julius Cäsars gewesen sein musste. Es war ganz jungfräulich, neu, unberührt. Ich lenkte mein Pferd die bewaldeten Hügel hinauf, die sich selbst dort, wo Schatten herrschte, in neues Grün kleideten. Ich versuchte, nicht an das zu denken, was jetzt im Tower geschah. Die Welt erschuf sich neu; konnte ich es nicht auch?
    Hinter mir schlängelte sich die Themse durch das flache Land, ein fröhliches Band, in dem die Sonne sich spiegelte. Gegenüber von Greenwich lagen meine Schiffe vor Anker, mastenstarrend auf dem gekräuselten Wasser, stromabwärts vom Tower … vom Tower …
    Ich hörte den Kanonenschuss, einen dünnen, fernen Knall.
    Anne war tot. Die Hexe war nicht mehr, nicht mehr auf dieser Welt.
    Ich hätte mich beglückt fühlen sollen, befreit, sicher. Aber die Schwermut verflog nicht. Es gab keine Wiedergeburt in Grün. Ich war auf immer verändert, und nie wieder würde ich zu meinem früheren Wesen zurückfinden. Äußerlich mochte ich bleiben, wie ich immer gewesen war – eine faule Melone: Außen rund und gerippt, die verborgenen inneren Teile aber verfallen und modrig.
    Die Kanone kündete ihren Tod. Und was war mit meinem?
    Es geht nicht um alles oder nichts, sagte ich mir. Unermesslich ist die Strecke zwischen dem Anfang in Gesundheit und Einfachheit und dem Ende in Krankheit und verdrehten Kompromissen. Auf dieser Strecke bin ich

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