Ich, Heinrich VIII.
an. Erzähle mir später davon. Ich werde in Westminster sein. Draußen. Vielleicht reite ich ein wenig.«
Ja, draußen war es am schönsten an diesem lieblichen Maienmorgen, wo auf allen Wiesen Minze und Veilchen sprossen. Ein warmer Wind wehte von Süden herauf.
Wer an einem solchen Morgen sterben sollte, brauchte schon außergewöhnlich viel Mut.
Es war eben Mittag geworden, als sich die Tür zu den Gemächern der Königin öffnete und Anne heraustrat, begleitet nur von ihren einzigen bekannten Freundinnen, Thomas Wyatts Schwester und Margaret Lee. Sie war erlesen gekleidet und erinnerte uns alle noch einmal an ihre außergewöhnliche Fähigkeit, Schönheit auszustrahlen, wenn es ihr beliebte. Uns allen fiel auf, wie kräftig gerötet ihre Wangen waren, wie funkelnd ihre Augen: Sie war lebendiger als jeder andere Mensch auf dem Rasen.
Ihr Kleid war weit ausgeschnitten, um den Hals zu entblößen und es dem Henker leicht zu machen.
Vorsichtig und mit gerafften Röcken erklomm sie das Schafott, und dann übernahm sie den Vorsitz über das Verfahren, als stehe sie vor dem Parlament.
Vor ihr stand der mächtige hölzerne Hinrichtungsblock mit einer gewölbten Vertiefung für ihr Kinn und einem vier Zoll breiten Steg, über den sie den Hals legen sollte. Unten lag genügend Stroh, um das Blut aufzusaugen.
Der Franzose, schlank und athletisch, stand zu ihrer Rechten, das stählerne Schwert mit der Spitze zu Boden gerichtet. Zur Linken standen seine Gehilfen; ihre gräuliche Aufgabe war es, sich um den kopflosen Leichnam zu bekümmern. Sie hielten ein Stück schwarzen Tuches bereit, mit dem sie bedeckt werden sollte. Sie lächelten ihr zu.
Der Himmel über allem war klar, und keine Wolke war zu sehen. Die verfluchten Vögel, die erst kürzlich von ihrer Winterreise zurückgekehrt waren, zwitscherten und sangen hartnäckig und brüsteten sich ihrer Freiheit und umbekümmerten Sorglosigkeit.
»Ihr guten Christenmenschen«, sprach Anne. »Ich bin gekommen, zu sterben nach dem Gesetz, denn nach dem Gesetz bin ich zum Sterben verurteilt, und so will ich nicht dagegen sprechen.« Ihre Worte stiegen empor, und ihre Blicke schienen sich auf jeden Einzelnen von uns zu richten. Sie sah mir direkt in die Augen, und einen flüchtigen Moment lang erinnerte ich mich an jede einzelne unserer Begegnungen – nein, ich erlebte sie noch einmal.
»Ich bin nur hergekommen, um zu sterben«, wiederholte sie. »Und demütig will ich mich so dem Willen meines Herrn, des Königs, unterwerfen.« Jeden von uns sah sie leidend an. »Ich bete zu Gott, er möge den König schützen und ihn noch lange über euch herrschen lassen, denn einen milderen oder gnädigeren Fürsten gab es nie. Mir war er stets ein guter und milder Herr.«
Ihre Worte waren respektvoll, aber es lag doch Ironie und Spott in ihnen. Ihre Botschaft war die gleiche wie die, welche Kingston nicht zu überbringen gewagt hatte. Anne würde dafür sorgen, dass sie doch noch an Heinrichs Ohren drang.
Sie schloss für einen Moment die Augen und schwieg, als sei sie fertig. »Sollte jemand gedenken, sich mit meinem Fall zu befassen, so will ich nur, dass er nach bestem Wissen sein Urteil fälle. Und so nehme ich meinen Abschied von der Welt und von euch, und ich bitte euch von Herzen, betet alle für mich.«
So endeten ihre Worte. Sie hatte nicht ihre Unschuld beteuert noch von ihrer Tochter gesprochen, weder fromme Ermahnungen noch scherzhafte Reden im Munde geführt. Anne gestaltete ihren Tod ebenso erlesen, wie sie ihre Feste und Maskenbälle gestaltet hatte; aus dem bloßen Stoff hatte sie etwas von unvergesslicher, zerbrechlicher Schönheit geformt.
Sie wandte sich an ihre Damen und gab ihnen ein paar Abschiedsgeschenke zum Andenken – ein mit goldenem und schwarzem Email verziertes Gebetbuch, ein paar vertrauliche Worte.
Dann nahm sie gelassen ihre Haube und den Kragen ab, um sich für den Scharfrichter bereit zu machen. Eine Augenbinde lehnte sie ab; sie schloss die Augen und kniete vor dem Block nieder.
Dann, plötzlich, verließ sie der Mut. Sie hörte ein Rascheln zu ihrer Rechten und schaute von Entsetzen gepackt auf, und sie sah, dass der Henker auf sie zutrat. Ihr Blick aber ließ ihn erstarren, und er wich zurück. Bebend senkte sie den Kopf und presste die Augen fest zu.
»O Jesus, erbarme Dich meiner Seele, o Jesus, erbarme Dich meiner Seele«, plapperte sie. Wieder fuhr ihr Kopf hoch, und sie erblickte den Scharfrichter, als dieser sein Schwert
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