Ich, Heinrich VIII.
Dauer zu vergrößern, damit Anna keine Zuneigung zu mir fasste. Das wollte ich vor allem nicht, auch wenn sie zusehends auf erstaunliche Weise englisch wurde. Ihre Alltagssprache hatte einen Stand erreicht, der dem eines Schulkindes entsprach; sie hatte sich mit meinen beiden Töchtern angefreundet, und jetzt war sie mit den Plänen für die Gärten beschäftigt, die Mitte April, nach dem letzten Frost, in Angriff genommen werden sollten. Wenn sie enttäuscht oder unzufrieden mit unserem ehelichen »Arrangement« war, so ließ sie es sich nicht anmerken. Es würde schwierig werden, sie herauszuhebeln, wenn der Zeitpunkt gekommen wäre.
Schwierig war es auch, Cromwell im Zaum zu halten und zu beschwichtigen. Er war mit Abstand der Gerissenste in meinem Reich, schlau und listig, wenn nicht gar wirklich mit dem zweiten Gesicht begabt; sein Instinkt für persönliches und politisches Überleben war legendär. Ich achtete mit äußerster Sorgfalt darauf, dass er von meiner veränderten Einschätzung seiner Person nichts merkte, aber um sie vor ihm zu verbergen, musste ich auch meine wahren Gefühle für Königin Anna verbergen.
Nach den ersten paar Tagen hatte Cromwell sich schüchtern erkundigt, ob die Lady Anna mir vielleicht doch besser zusage, als ich anfangs gedacht hätte? Da die Antwort sowohl ja (wegen ihrer unerwarteten Fähigkeit, jeden Raum, in dem sie sich aufhielt, gemütlich zu machen) als auch nein (was ihre körperliche Widerwärtigkeit anging) lautete, grunzte ich nur und sagte: »Ein wenig.« Nach dieser Antwort war er nervöser als zuvor, und ich wusste, ich hatte damit einen Fehler begangen. Ein besorgter Mann bemerkt viel mehr als ein zufriedener, und in Zukunft musste ich dafür sorgen, dass Cromwell zufrieden genug war, um sich zu verraten oder zumindest seine wahren Gefühle gegen das Luthertum zu offenbaren.
Die Lage in England aber (ich konnte es zugeben und einsehen, auch wenn mir die Implikationen missfielen) war die: In den Augen der Welt waren wir ein protestantisches Land, und just die Dinge, die mir am Herzen lagen und wichtig waren, hingen zu einem großen Teil von der Existenz des Protestantismus ab (wie man jetzt modischerweise statt Luthertum zu sagen pflegte). Was waren diese Dinge? Mein Gewissen zum Beispiel. Auf mein Gewissen hatte ich den Bruch mit Rom und die Annullierung der inzestuösen Ehe mit Katharina genommen. Mein Gewissen hatte ich zum obersten Gesetz des Landes gemacht. Ich suchte göttliche Anleitung und nahm sie mit ganzem Herzen an. Zwischen mir und Gott gab es eine unmittelbare Beziehung; alle Vermittler (die Kirche, die heiligen Traditionen) mussten dabei übersprungen werden.
Aber das Luthertum – ich meine, der Protestantismus – war so sozial. Er strebte danach, den Menschen zum Deuter der Dinge zu machen, letzten Endes zum Mittelpunkt aller Werte auf Erden. Mit der Zeit würde es keine Einrichtung, kein Gebäude, keinen Gegenstand mehr geben, der noch als göttlich gelten würde. Es gäbe nur noch den Menschen, die Menschheit, den Humanismus, und die ganze Welt würde sich um den Menschen und seine kleinen Werke und sein Umherstolzieren drehen. Daraus aber würde dann folgen, dass auch ein König nur ein Mensch sei, und jeder Mensch ein potenzieller König …
Ich verabscheute den Protestantismus! Er führte letzten Endes in die Anarchie. Darin lag das Paradoxon. Englands Sicherheit hatte ihr prekäres Fundament in einer theologischen Argumentation, die uns am Ende zu neuer Barbarei verführen konnte. Mir oblag es, einen Mittelkurs zwischen zwei zerstörerischen Extremen zu steuern: zwischen Rom und der Anarchie. Ich konnte es, wenn es auch immer schwieriger wurde. Aber wie stand es mit Edward, der nach mir kam?
Der Protestantismus mochte Cromwell verlockend erscheinen, aber er konnte nicht vorhersehen, wohin er führen würde. Cromwell und seinen Kräften musste Einhalt geboten werden. Der Protestantismus durfte in England nicht weiter gedeihen, denn sonst würde er Edward, wenn er auf dem Thron säße, wie eine Frühjahrsflut überschwemmen und ihn hinunterspülen.
Bei Hofe schickten wir uns an, nach Windsor umzuziehen, wo wir den Frühling verbringen und den Mai feiern wollten. Wagen wurden bereitgemacht und im Hof aufgefahren, und Arbeiter verwandten zwei volle Tage darauf, verpackte Gegenstände hinauszuschleppen und sorgfältig aufzuladen. Alles wurde in Listen eingetragen, denn unsere liebsten Dinge wurden nach Windsor geschafft. Die ganz
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