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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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zerbrechlichen wurden natürlich nicht angerührt. In jedem Schloss gab es ein paar davon – eine fein justierte Uhr in diesem, eine machtvolle Orgel in jenem, ein Gemälde, dessen instabile Farben den Einfluss der Elemente nicht überstanden hätten. So kam es, dass ich immer, wenn ich in eine königliche Residenz zurückkehrte, eine ganze Schar alter und treuer Freunde wiederentdecken und begrüßen konnte.
    Dann war alles aus Greenwich fortgeschafft; ich war nur noch zurückgeblieben, um ein paar lästige Staatsdokumente zu überprüfen, die, sobald ich sie unterzeichnet hätte, unverzüglich dem Kanzler zugestellt werden sollten. Ich war immer gern in einem eben verlassenen Schloss, dessen Leben woanders hingezogen war; es erfüllte mich mit einer Art billiger Melancholie, durch die leeren Räume zu streifen, und dieses Vergnügen gestattete ich mir jedes Mal unter dem einen oder anderen Vorwand.
    Heute nun, nachdem ich den letzten der kaiserlichen Kuriere fortgewinkt hatte (Karl nannte Franz immer noch »Bruder«; wie verdrießlich!), beschloss ich, durch den benachbarten Korridor in die Gemächer der Königin zu wandern. Ich tat es und sah nicht zum ersten Mal voller Staunen, um wie viel größer ein Raum ohne seine Möbel wirkte – nicht nur ein wenig größer, sondern zwei- oder dreimal so groß wie vorher. Und ohne Möbel und Wandbehänge hatte ein Raum nicht die geringste Persönlichkeit. »Geister« waren vor allem an greifbare Gegenstände gebunden: an den Vorhang, den man gerade betrachtete, als jemand bestimmte Worte aussprach; an das Intarsienmuster, auf das man gestarrt hatte, während man sich an einem bestimmten schmerzlichen Wendepunkt seines Lebens befand. Ohne diese Dinge verflogen die Geister. Katharina war hier gewesen, und Anne. Jane als Ehrenjungfer. Jede von ihnen hatte die Räume zu ihrer Zeit um so viel anders aussehen lassen, dass es jedes Mal schien, als seien sie von anderen Ziegeln umgeben, als böten die Fenster einen anderen Ausblick.
    Im Privatgemach der Königin schaute ich zum Ostfenster hinaus. Dieselbe Themse floss immer noch vorbei, rauschend jetzt, angeschwollen vom Frühjahrshochwasser. Ich sah mich um und genoss die nackten Dielen und offenen Räume. Ein neuer Anfang war immer etwas Aufregendes, und leere Räume bedeuteten einen solchen für mich.
    In meinem Geiste hörte ich Musik – verhallte Musik aus anderen Räumen, anderen Zeiten. In solcher Stimmung war ich an diesem Morgen, dass ich mich nicht wunderte, sondern dastand und lauschte. Getragen, langsam, klagend … Dinge, die gewesen waren und die es nicht mehr gab … alles war von eigentümlicher, trauriger Schönheit.
    Aber die Töne waren Wirklichkeit. Ein falscher erklang, und in der Erinnerung erklingt nie ein falscher Ton …
    Ich bewegte mich, wandte den Kopf. Die Töne drangen stärker an mein linkes Ohr. Sie kamen aus Zimmern, die weiter hinten in den Gemächern der Königin lagen. Ich durchquerte den Audienzsaal und die äußere Ratskammer. Der Klang war voller. Ich stand in einem Türbogen, wo es nach links und nach rechts weiterging, und ich konnte nicht ausmachen, woher die Musik kam. Ich wartete noch eine Weile mit angehaltenem Atem. Aber nicht meine Ohren trafen die Entscheidung, sondern mein Verstand. Ich wusste, dass Musiker (ich war ja selber einer) natürliches Licht immer dem künstlichen vorzogen. Fenster aber gab es in den Gemächern der Königin an der linken Seite, und dort fiel Gottes Licht herein. Also wandte ich mich nach links, und …
    Ich blieb regungslos stehen, mein Atem gefror, meine Bewegungen erstarrten, und in meinen Geist prägte sich für alle Zeit der Anblick des großen Spinetts mit den elfenbeinernen Tasten, nackt in einem leeren Raum, und Mistress Catherine Howard, die sich darüber beugte und Töne anschlug. Ich sah, wie sie sich mühte, allein im leeren Zimmer, einen Ausdruck reinen Entzückens auf ihrem Antlitz. Ich wusste, was es bedeutete, einen ganzen Tag allein sein zu dürfen, um auf einem neuen Instrument zu spielen, es zu erlernen und zu meistern, ohne dass jemand zuhörte. Es übertraf die Sinnlichkeit, es übertraf fast alle anderen Erlebnisse.
    Jede Note ertönte laut und klar, schnellte sich jubilierend in die Frühlingsluft. Ich blieb verborgen stehen, solange ich wagte. Schließlich aber kam es mir hinterlistig vor, mich spitzelhaft in die künstlerische Einsamkeit zu schleichen, und so trat ich kühn hervor.
    »Mistress Howard«, sagte ich schlicht und ging

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