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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Tag die linke Szene in Wien abgehört hatte, dann muss das Telefonprotokoll im Wesentlichen aus diesem Satz bestanden haben.
    Ich, als das Proletariat der WG, war der, der den Müll runtertrug. Als ich an diesem Abend die Mülltonne im Hof öffnete, sah ich, dass sie voll von Büchern war. Ich war fassungslos. Was bedeutete das? Ich durchsuchte die Tonne, wie ein Penner, der nach Lebensmittelresten wühlt. Aber das waren doch Lebensmittel. Bücher! Meine WG-Mitbewohner hatten offenbar ihre sozialistische Literatur entsorgt, alles, was verdächtig sein würde, wenn »sie kommen«. Die blauen Marx-Engels-Werke, die potthässlichen, braun plastifizierten Lenin-Ausgaben, die roten Schulungsbroschüren der KP, rororo-aktuell-Bändchen wie »Was ist Stadtguerilla?«, Dutschke , sogar Ernst Bloch – warum um Herrgottswillen sogar den Bloch? Weil das Buch »Spuren« hieß?
    Hier wurden Spuren beseitigt, das war klar. Was tun?
    Zunächst wollte ich alle diese Bücher retten. Dann dachte ich: Nein.
    Ich wollte diese braune Lenin-Ausgabe nicht. Und die verschmutzten Taschenbücher auch nicht. Ich nahm nur die Bände der Marx-Engels-Werke. Das war die Entscheidung, die ich traf: nur die blauen Bände.
    Es waren sechs Bände, die ich mit hinaufnahm, abwischte und in mein Regal stellte.
    Liesi sagte: »Du spinnst!«
    Ich sagte: »Wer spinnt?«
    »Warum willst du dich aussetzen, wenn sie kommen?«
    »Wer spinnt? Ich? Oder die Idioten, die diese Bücher wegwerfen?«
    Die Idioten. Der Plural löste einen Verdacht aus. Ich sah vor mir, wie –
    »Ich liebe dich!«, sagte ich, küsste Liesi, nahm meine Reisetasche aus dem Schrank, küsste Liesi noch einmal. »Ich bin bald zurück!«
    Ich fuhr in die Mollardgasse, dann zur Schottenfeldgasse. Dann zur Fuhrmanngasse. Ich fuhr alle Adressen von WGs ab, die ich kannte. Alle Adressen von Freunden und Bekannten aus der linken Szene. Alle Adressen, soweit sie mir bekannt waren, der Dobner-Stammkunden, der Mitglieder des »Arbeitskreises Politische Gefangene«, des »Kapital-Arbeitskreises« und der Schulung »Einführung in den Trotzkismus«. Ich fuhr kreuz und quer durch Wien, mit meinem kleinen Adressen-Büchlein und meiner Reisetasche. Ich ging in die Häuser, direkt zu den Mülltonnen. Ich nahm nur die blauen Bände. Die Reisetasche füllte sich. Ich wurde wählerisch. Bei Dubletten verglich ich, nahm das schönere Exemplar mit, ließ das weniger schöne zurück. Es war seltsam, wie lange ich brauchte, um den Band 42 zu finden, die »Grundrisse«. Ich kannte ein Dutzend Studenten, die ihn immer wieder erwähnt hatten – Angeber! Ich fand ihn erst ganz am Ende, in der ich weiß nicht wievielten Tonne. Es machte mich rasend, dass bestimmte Bände fehlten. Ich rief aus einer Telefonzelle Bekannte an, fragte sie nach Adressen.
    Im Morgengrauen kam ich nach Hause. Liesi wachte auf, sah mich an, drehte sich um und schlief weiter. Es war klar, dass sie mich verlassen würde.
    Eine Stunde später hatte ich alle blauen Bände einigermaßen gereinigt, geordnet und ins Regal gestellt.
    Liesi setzte sich im Bett auf. Ich sagte: »Jetzt können sie kommen!«
    Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich mich immer wieder gefragt – das klingt übertrieben. Es war nur so, dass es ab und zu Anlässe gab, an denen mir diese Geschichte einfiel, und da fragte ich mich: Wieso hat Rainhard Pitsch mir die Tat angekündigt? Das war doch völlig irre. Ich hätte, wenn ich ein wenig heller gewesen wäre, am nächsten Tag der Polizei sagen können, wer Walter Palmers entführt hatte. Warum hatte er es gesagt? Warum mir?
    Da traf ich ihn im Café Sperl. Ich saß dort mit Freunden zusammen, als sich plötzlich einer vorbeugte und konspirativ flüsterte: »Schaut mal, da drüben! Da sitzt der Hofrat der Revolution!«
    Rainhard Pitsch.
    Er war frei?
    »Schon lange!«
    Gekleidet in einen zerschlissenen Zweireiher-Nadelstreif-Anzug, den er mit verdrießlicher Indifferenz trug, ging er seiner revolutionären Tätigkeit nach: Er las die Presse. Ich stand auf und ging zu ihm hin. Er erkannte mich. Er lächelte viereckig mit seinem Briefkastenschlitz-Mund. Ein paar Zähne fehlten. Nach einigen Floskeln stellte ich die Frage.
    »Ich wollte gerade gehen«, sagte er, »weil niemand im Savoy war, den ich kannte. Da kamst du herein! Ja, ich erinnere mich!«
    »Und?«
    »Ich brauchte einen Zeugen. Ich wollte schon zum Dobner weitergehen. Weil ich einen Zeugen brauchte.«
    »Einen Zeugen?«
    »Ja. Klar. Einen, der bestätigen konnte,

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