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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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über Stawrogins Beichte, oder?«
    »Ja!«
    »Und? Ist doch eindeutig. Die Aufforderung zur Tat!«
    Er machte eine große ausholende Handbewegung.
    »Das ist die Botschaft. Hat hier keiner gelesen. Das ist das Problem. Aber es ist völlig klar, unwiderlegbar: Es gibt keine Moral. Außer die revolutionäre Moral. Ganz klar: die Aufforderung zur Tat!«
    »Aber Stawrogin wird in seiner Haltlosigkeit doch ganz apathisch. Ich sehe da keine Aufforderung zur Tat.«
    »Falsch! Ganz falsch!«, sagte er. »Stawrogin erklärt in seiner Beichte, dass er sich von allen weltlichen und religiösen Autoritäten befreit hat. Und was ist also die logische Konsequenz?«
    »Was?«
    Er lächelte. Und dann sagte er den Satz, der mich fünfundzwanzig Jahre meines Lebens beschäftigen sollte:
    »Lies morgen die Zeitungen!«
    Er trank aus, sah auf die Uhr und machte wieder eine große, herrische Geste. Er winkte dem Kellner.
    Am nächsten Tag titelten die österreichischen Zeitungen: Der österreichische Textilindustrielle Walter Palmers entführt! Dreißig Millionen Lösegeld gefordert!
    Ich dachte, als ich das las, keine Sekunde an die Nacht davor. Als die österreichischen Zeitungen hysterisch mutmaßten, dass nun die RAF auch in Österreich tätig werde, in unserem schönen, kleinen, weltabgewandten Österreich, da bekam ich die Wut. Das hättet ihr gerne, dachte ich, die RAF in Österreich! Um auch hier eure Schweine-Gesetze durchsetzen zu können, Notstandsverordnungen, Rasterfahndung und Berufsverbote. In der Küche sagte ich noch ironisch: »Wer soll denn hier die RAF sein? Vielleicht der Herr Pietsch aus dem Café Savoy?«
    »Ist es nicht furchtbar«, sagte Herr Opocensky »Stalin hat die Idee des Sozialismus geschändet, und jetzt zerstören die Nazi-Kinder von der RAF auch noch den Neo-Marxismus!« Müde und traurig füllte er Bestellscheine aus.
    »Nein«, sagte ich, »nein, Herr Opocensky, ich bin absolut sicher, die Palmers-Entführung hat nichts mit« – Ich glaube, ich sagte: »Hat nichts mit uns zu tun«.
    Das war am Abend auch die einhellige Meinung im Café Dobner. Da kam ein Zeitungsverkäufer mit den Nachtausgaben herein. In der Zeitung stand, dass der Anruf eines Entführers bei der Familie Palmers auf Tonband aufgenommen worden sei. Die Aufnahme könne unter einer bestimmten Telefonnummer abgehört werden, die Polizei bitte um Hinweise.
    Vor der Telefonzelle des Dobner bildete sich eine Warteschlange. Ich wollte das Band aus reiner Sensationsgier hören. Ich fand das witzig. Ich erwartete nicht, dass ich die Stimme erkennen würde. Ich wollte einfach die Stimme von einem echten – ja: Verbrecher. Nicht TV-Krimi, sondern Realität. Wie redet so einer wirklich? Was sagt er? Wir machten Witze.
    Einer nach dem anderen ging in die Telefonzelle, hörte das von der Polizei eingerichtete Band ab – und kam blass heraus.
    Ich war fassungslos.
    Jeder erkannte die Stimme. Es war »der gläubige Thomas«. Wie oft ist er hier gewesen. Ironisch bezeichnet als »der neue Parteiapparat von Rainhard Pitsch«. Ein Hitzkopf, der gegen die »Folterung« der RAF-Genossen in Deutschland wetterte, milde belächelt wegen seines sperrigen Vorarlberger Dialekts. Ein armer Eleve, der die Tasche von Rainhard Pitsch trug.
    Seine Stimme – unverkennbar.
    Es war eine seltsame Stimmung im Dobner. Ein Herd, in dem ein Kuchen aufging und plötzlich zusammenfiel.
    Bedeutung. Weil man so nah dran war. An einem historischen Ereignis. Und Panik. Weil man so nah dran war.
    Ich weiß nicht, wie lange die Polizei brauchte, um zu wissen, was an diesem Abend alle Gäste des Café Dobner wussten. Einen Tag? Zwei Tage?
    Ich weiß nur, dass bald darauf ein Freund in unserer WG anrief und fragte: »Waren sie schon bei euch?«
    »Wer?«
    Alle Bekannten und Freunde von Rainhard und Thomas wurden überprüft. Sie kamen in die Wohnungen, sahen sich um, stellten Fragen. Sie zeigten keine Durchsuchungsbefehle. Sie durchsuchten. Sie standen grinsend vor Bücherregalen voll mit marxistischer Literatur, sagten »Aha!« und stellten Fragen. Sie zogen Bücher von Marx aus dem Regal, wogen sie in der Hand, als wollten sie das Gewicht prüfen, sagten: »Du bist doch so belesen!«, sie duzten grundsätzlich. »So ein Gescheiter bist du! Na, dann sag mir, was du weißt!« Sie wischten mit einer Handbewegung ein Dutzend Bücher aus dem Regal, sagten: »So gescheit! Du wirst mir doch nicht sagen wollen, dass du nichts weißt!«
    »Waren sie schon bei euch?« Wenn man an diesem

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