Ich kann jeder sagen
ich arbeitete, lag auf dem Tisch der Neuerscheinungen stapelweise revolutionäre Literatur. Aus den feinsten Verlagen. Das war die Zeit. Und nach der Arbeit heim in die WG. Und da ging es erst recht nur um Revolution und bewaffneten Kampf. Das war meine Welt. Ich hatte keine andere. Sie war eine Chimäre, sie erregte mich.
»Sympathisanten« wurden jene genannt, die offen oder insgeheim mit den Anschlägen und Morden der »Roten Armee Fraktion« sympathisierten. Das war das Problem. Ich weiß nicht, ob es damit zu tun hatte, dass ich, als ich geschlagen wurde, nie zurückgeschlagen habe. Dass ich gedacht habe: Nicht-Wehren deeskaliert. Mit anderen Worten: dass ich ein Feigling war. Aber jetzt plötzlich war Sich-Wehren zum Fetisch geworden. Und »Sich-Wehren« hieß alles, auch Mord.
Und ich dachte: Nichts. Aber in diesem Nichts ein ganz kleines, feiges Ja.
Liesi verstand nicht, warum mich die Anschläge, Attentate und Morde der RAF so schadenfroh machten. Sie sagte »schadenfroh«. Ich sagte: Ist doch kein Schaden! Wir sangen in der Küche höhnische Lieder über den ermordeten Bankier Jürgen Ponto und den entführten und dann ermordeten Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer, das Nazi-Schwein. Ich war bei einer Demonstration, die gegen die »Isolationshaft« der RAF-Genossen protestierte.
Liesi wollte ausziehen. Sie wollte Idylle. Ich wollte den Kampf.
Ich trank und schaute zu den blauen Bänden. Das Tragische an dieser Zeit war, dass sie zugleich so lächerlich war.
Komm, Liesi, komm!
Sie wollte nicht mitkommen. Es war der 9. November 1977. Wieso kann ich mich an das Datum erinnern? Weil der 9. November ein historisches Datum ist.
Ja, wir waren müde. Ja, wir mussten am nächsten Tag arbeiten. Ja, wir hatten ohnehin kein Geld. Aber ich wollte noch ausgehen. Nur ein Bier! Komm!
Ich ging alleine. So wurde Liesi nicht meine Zeugin.
Ich ging ins Café Savoy. Normalerweise ging ich ein Stückchen weiter, zum Café Dobner. Warum bin ich nicht wie immer ins Dobner gegangen? Ich wollte nur ein Bier und bald wieder nach Hause. Das Savoy war das nächste Lokal. Als ich eintrat, stieß ich mit einem jungen Mann zusammen, der das Café gerade verlassen wollte. Das war Rainhard Pitsch.
Er grüßte mich. Ich grüßte ihn. Er sah mich an.
»Bist du alleine?«
»Ja.«
»Ich trinke noch ein Bier mit dir.«
Ich schaute, ob er seine Tasche dabeihatte. Nein.
Rainhard Pitsch war damals in der linken Szene von Wien berühmt. Berüchtigt. Von vielen belächelt. Er war Trotzkist. Man sagte, dass er imstande war, eine trotzkistische Gruppe, einen trotzkistischen Zirkel so oft zu spalten, bis nur noch ein Genosse übrig blieb, und den machte er am Ende noch schizophren. Es gab keine Stadt auf der Welt, in der es so viele, wenn auch winzige, trotzkistische Gruppen und Organisationen gab. Das war das Werk von Rainhard Pitsch. Aber das erzählte man. Was ich erlebt hatte, auch in der WG-Küche, war, dass er in Diskussionen immer wieder seine bauchige, schwarze Kunstledertasche öffnete, in der er ein Dutzend Trotzki-Bücher hatte, ein Buch herauszog, es aufschlug und daraus zitierte. Er fand immer in Sekundenbruchteilen das passende Zitat. Ich bewunderte, wie er mit Büchern jonglierte .
Manche hielten ihn für einen Irren. Aber ich war jung, unsicher, ich wusste nicht, welcher Irre einmal als Heiliger gelten würde.
Ich war aufmüpfig und rebellisch bei den Normalos, aber fasziniert von den Irren.
»Ja, gern!«, sagte ich.
Würde ich eine Autobiographie schreiben, dann würde ich jetzt einfügen, wie das Wetter war. Dramatisch.
Aber ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass wir dann beim Bier saßen und wenig Gesprächsstoff hatten. Der Parteiengründer und die Massenbasis. Keine Verbindung.
Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier, säuberte mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart und klappte seinen Mund auf, der mich an den gezahnten Schlitz eines Briefkastens erinnerte. »Und? Was machst du gerade?«
Was soll man auf eine solche Frage antworten? Ich sitze da und trinke mit dir ein Bier? Oder: Ich arbeite in einer Buchhandlung? Oder: Ich habe einen Konflikt mit meiner Freundin? Ich sagte: »Ich lese gerade die ›Dämonen‹ von Dostojewski.«
»Ach ja«, sagte er. »Wie weit bist du? Hast du schon Stawrogins Beichte gelesen?«
»Ja!«
»Und?«
»Was und?« Ich stammelte etwas von großer Literatur, beeindruckend …
»Und? Was ist die Lehre daraus?«
»Die Lehre?«
»Wir reden
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