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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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dass ich zu dieser Zeit unschuldig in einem Café saß. Du warst mein Alibi, verstehst du? Wir redeten exakt in dem Moment, als Palmers entführt wurde. Ich war ja nicht an der Entführung direkt beteiligt. Nur logistisch. Für den Tatmoment brauchte ich ein Alibi.«
    »Aber warum hast du gesagt: Lies morgen die Zeitungen?«
    Er lachte. »Das habe ich doch immer gesagt. Du kannst jeden Tag die Zeitungen lesen, und an jedem Tag ist das eine Aufforderung zur Tat!«
    Es klopfte an der Tür. Ich sah zu meiner Überraschung den wirklichen Hofrat von heute morgen vor meinem Laden stehen. Ich öffnete.
    »Ich kam gerade vorbei und sah, dass noch Licht ist! Dass Sie noch da sind.«
    »Kommen Sie rein!«
    Ich fragte ihn, ob er ein Glas Wein wolle. »Ja, gern!« . sagte er und lockerte seine Krawatte.
    Die Flasche war leer. Ich öffnete eine neue. Dabei musterte ich ihn und fragte: »Wo haben Sie eigentlich 1977 gewohnt?«
    »1977? Da habe ich studiert.«
    Ich schenkte ihm ein Glas ein.
    »Ja. Und wo haben Sie gewohnt?«
    »In einer WG. In der Schottenfeldgasse.«
    Ich lachte. Ich lachte so sehr, dass ich Tränen in den Augen hatte.

Chronik der Girardigasse
    Ich arbeite in einem Bordell. Das Bordell ist kein Bordell mehr, man kann lediglich sehen, dass es eines gewesen ist. Allerdings nur, wenn man es weiß. Wer dieses Haus betritt und dessen Geschichte nicht kennt, kommt nie auf die Idee, ein ehemaliges Freudenhaus zu betreten. Aber er kommt auch nicht auf keine Idee. Wer hier eintritt, stutzt. Bleibt stehen und schaut. Sucht nach Worten. Noch keiner ging jemals achtlos die Stiegen hinauf, und keiner sagte bloß: »Oh, hübsch!« oder »Interessantes Stiegenhaus!« Noch jeder fügte hinzu: »Da war doch etwas. Was war da?« Dieser Ort hat eine Ausstrahlung, einen Schein, dessen Sein man augenblicklich ergründen will. Woran denkt man? An ein Theater? Man denkt zuallererst an ein Theater. Ein Haus, gebaut für den Schein. Und ist doch augenblicklich wieder verwirrt: Wo ist oder wo war die Bühne? Hier ist das Parkett, da sind die Galerien, dort die Logen – aber wo die Bühne? War dieses Gebäude vielleicht gar die schrullige Idee eines Exzentrikers, der die Theateratmosphäre liebte, aber von Stücken nicht behelligt und von den Eitelkeiten der Schauspieler nicht gelangweilt werden wollte? Der also ein Theater ohne Bühne bauen ließ, wo das Publikum selbst zum Hauptdarsteller werden konnte?
    Dann aber kippt die Assoziation, und der Besucher denkt plötzlich erschrocken an ein – Gefängnis. Sollten hier vielleicht gar nicht Zuschauer im Mittelpunkt stehen, sondern Täter unter Aufsicht? Und führten die vielen Türen, die von den Galerien abgingen, gar nicht in Logen, sondern vielmehr in Zellen?
    Ist die Wahrheit nicht bekannt, weil sie verdrängt oder vergessen wurde, dann zeigt sie sich immer noch in der Konstellation der Irrtümer zueinander: Denn was ist ein Bordell, wenn wir eine architektonische Metapher suchen, anderes als eine Mischung aus Theater und Gefängnis?
    Ich beschreibe ein Haus in Wien, das Haus, in dem ich arbeite. Aber der Wien-Kenner weiß schon jetzt: Die Rede ist nicht von einem einzelnen Haus, sondern von ganz Wien. Denn wie kann man den Eindruck, den diese Stadt macht, anders beschreiben als mit einem Reigen dieser Begriffe: Theater und Gefängnis und verdrängte oder vergessene Geschichte. Schöner Schein, unklares Sein. Ein Publikum, das sich am liebsten selbst beobachtet und sich selbst applaudiert, und dabei das Gefühl nicht los wird, in Wahrheit weggesperrt zu sein, nicht hinauszukönnen in das freie, das wirkliche Leben. Und was ist die Geschichte? Ihr roter Faden, nein: ihr ewiges rotes Licht ist die Erfahrung der Wiener, immer zu teuer für ihre Potenzphantasien bezahlt zu haben, weil sie, als es darauf ankam, doch impotent waren – und dennoch schmierige Täter.
    Dies ist die Geschichte dieses Hauses – und en miniature die Geschichte Wiens in diesem Jahrhundert: Das Haus, in dem ich schreibe, befindet sich in der Girardigasse. Alexander Girardi war ein berühmter Volksschauspieler, zu seiner Zeit der Inbegriff populärer Theaterkunst. Sein Lebenstraum, an die bedeutendste deutschsprachige Bühne berufen zu werden, nämlich an das Wiener Burgtheater, erfüllte sich im Jahr 1918. Allerdings starb Girardi am 20. April desselben Jahres. Sein größter Triumph und sein Ende fielen in eins zusammen. Sein Todesdatum setzt sich aus zwei für die Geschichte Österreichs markanten Geburtstagen

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