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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Damals, im Jahr 1954, war mein Vater ein zwanzigjähriger Mann mit Träumen und Muskeln. Er träumte davon, Weltmeister zu werden und Marilyn Monroe zu erobern, und die Muskeln waren alles, was er mitbrachte, um seine Träume zu verwirklichen. Aber er war kein Träumer in dem Sinn, dass man ihn größenwahnsinnig oder weltfremd hätte nennen können: das ganze Land sprach damals vom möglichen Weltmeistertitel, und von Marilyn Monroe schwärmten fast alle Männer. Sie war mehr als ein Sexsymbol, sie war das Symbol für ein Glück, das so universal war, dass man es vielleicht auch mit einem Duplikat erringen konnte. Und meine Mutter war ein Duplikat. Auch sie hatte Träume, vor allem ein Traumbild von sich selbst: Sie wollte sein wie Marilyn Monroe, so aussehen und angehimmelt werden wie sie.
    Sie war damals, mit siebzehn Jahren, nach einer vierstündigen Motorradfahrt auf dem Sozius ihres Onkels, eines kleinen Winzers aus Obersulz in Niederösterreich, nach Wien gekommen, um in die Pädagogische Akademie der Hauptstadt einzutreten und zur Volksschullehrerin ausgebildet zu werden.
    Der Onkel war der einzige motorisierte Mann in der Familie meiner Mutter, weshalb ihm die Aufgabe zugefallen war, meine Mutter in die Stadt zu bringen.
    Genannt wurde er Zwerg Nase. Er war kleinwüchsig, aber auch für damalige Verhältnisse nicht wirklich ein Zwerg, seine Nase allerdings war viel größer als alles, was man sich gemeinhin unter einem Humpen oder Zinken vorstellt: Sie sah aus wie ein rotes Wespennest. Dieser Onkel liebte den Tresterbrand, den er aus den Rückständen der Traubenpressung destillierte. Er lieferte meine Mutter bei Tante Loisi ab, seine Nase war vom Fahrtwind noch röter als sonst, ein Warndreieck, ein Gefahrenzeichen. Aber er hatte nicht die Nase, die etwas witterte. Er war einfach wütend, genervt. Die Reise war für ihn ein Horror gewesen, mit diesem Mädchen, das sich geweigert hatte, für die Motorradfahrt eine Hose anzuziehen. Vier Stunden lang ist ihr der Wind unter das Kleid gefahren, ein Tanz, sagte er, ein irrer Tanz sei das gewesen, wie sie unausgesetzt den Wind aus dem Kleid geschlagen, den Saum an einer Stelle runtergedrückt hatte, während der Wind ihr sofort an einer anderen Stelle unter den Stoff fuhr, da blähte sich das Kleid auf, dort drückte sie es nieder, ein Hin und ein Her sei das gewesen, eine einzige Gefahr im Verkehr.
    Tante Loisi rümpfte die Nase. Auch sie hatte den Familienzinken, aber da sie nicht trank, war er scharf wie ein Schnabel. Ohne sichtbare Poren, von Gesichtscreme glatt und schimmernd. Aloisia war auch eine Art Ikone – des sozialen Aufstiegs, der der Familie realistisch möglich schien: Sie hatte einen Wiener Ministerialbeamten geheiratet. Mutter sollte bei ihr zur Untermiete wohnen, in Wahrheit aber, wie sich bald herausstellte, ihr Dienstmädchen sein. Da saßen sich also zwei Ikonen gegenüber, im Grunde zwei Kopien der gängigen Symbole von Lebensglück, und es war augenblicklich klar, dass die Wohnung zu klein war für beide. Man trank Kaffee, damals betonte man noch: echten Bohnenkaffee, aß Buchteln, Onkel Franz war sauer, nicht nur wegen der Herfahrt, sondern jetzt auch, weil er wegen der Rückfahrt von seiner Schwester keinen Schnaps bekam, und Tante Loisi war indigniert vom Auftritt ihrer Nichte: dieses Fähnchen von einem Kleid, diese ungesunden Schuhe! Völlig unangemessen für eine angehende Lehrerin, und die Haare! Wasserstoffblond gefärbt. Letzte Weihnachten noch habe sie doch so wunderschönes dickes braunes Haar gehabt, na gut, Zöpfe müssten jetzt vielleicht wirklich nicht mehr sein, aber so! Wie ein amerikanisches Flittchen! sagte sie, und: Wie eine Braut von einem Halbstarken! sagte sie, und: Jugend! sagte sie immer wieder mit säuerlich verständnisvollem Grinsen, ja die Jugend! Aber das bekommen wir schon in den Griff! Dann sah sie ihre Nichte aufmunternd an. Bis dahin, erzählte mir meine Mutter, habe Tante Loisi mit Onkel Franz geredet, als wäre sie gar nicht da, oder doch da, aber ein Gegenstand, oder ein Tier, das zur Dressur abgeliefert worden sei. Tante Loisi, so meine Mutter, habe eine weiße Bluse mit Spitzenkragen getragen, es habe ausgesehen wie Tortenpapier, und sie habe gewusst, dass sie so nicht werden wolle: ein Krapfen auf Tortenpapier.
    Bis zu diesem Punkt war alles weitgehend normal. Symbole, Ikonen, gesellschaftliche Ideale – im Alltag sind sie nur Klischees. Aber wenn schon Klischees gegeneinanderstehen, dann möge das

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