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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Fotografien dieses Innen-Boulevards: Sie zeigen schmerbäuchige Kutscher mit den Allüren von Grafen, die sich angesichts der sogenannten »Hübschlerinnen« genießerisch den Bart zwirbeln – und doch war damals schon beides nicht mehr wirklich wahr: weder die Kutscher noch die Grafen. Anders als das öffentliche Verschwinden der Huren war das Verschwinden der Kutscher und Grafen definitiv, und nur dies sollte von dieser Zeit in dieser Stadt bleiben: das Verschwinden. Draußen fieberten die Wiener dem politischen Anschluss entgegen, und drinnen, im Inneren dieses Hauses, der physischen Verschmelzung – und alles wurde eins. Ein und dasselbe, vorexerziert im Haus Girardigasse 10: theatralisches Verschwinden, verschwiegenes Verstecken. Ob Kutscher, Graf oder Arbeiter, alles verschwand 1938, nur scheinbar zwar, so wie zuvor die Huren, aber es verschwand, es verschwand im Volkskörper. Ach, wie haben die Huren zuvor noch gelacht über den Begriff »Volkskörper« – stehen sollte er (hahaha!), wie ein Mann (hahaha!), der Volkskörper, der Befriedigung suchte; und der Kutscher, der längst kein Kutscher mehr war, sondern ein Nazi, sagte zur Frau Marie: »Ich bin der Volkskörper, und du bist der Volksempfänger!« (hahaha!). Alles verschwand und es blieben nur die Allüren, und den Allüren stehen die Uniformen immer noch am besten.
    Als ich in dieses Haus einzog, lebte gerade noch in der Nachbarwohnung rechts ein gewisser Franz Gärtner, Oberwachtmeister im Ruhestand, Mieter seit dem Jahr 1938. »Ach«, erzählte er, »wie haben wir sie mit nassen Fetzen hinausgejagt, die ungarischen Jüdinnen, die rumänischen Zigeunerinnen, die arbeitslosen böhmischen Dienstmädeln, das ganze syphilitische Gesindel …!« Das Volk brauchte Raum, und in diesem Haus kann man erfahren, welchen Raum diese Herren eroberten: Enge Zellen, die perfekt geplant waren zur so wohlfeilen wie kurzfristigen Befriedigung animalischer Gelüste, und diese sollten sie nun sehr teuer zu stehen kommen. Keine ist mehr zurückgekommen, die da gelacht hatte: »Teuer zu stehen, ach so teuer ist es gar nicht, Schatzi, dass er steht!«
    So viele Ach’s! – Und nie wieder konnte es so werden, wie es war, es wurde bloß, was es schon zuvor nur zum Schein gewesen war: ein ganz normales Wohnhaus. Aber – noch ein vorläufig letztes: Ach! – wie könnte es wirklich werden, was es zu sein vorgibt? Keiner, der hier eintritt, kann denken oder gar empfinden: Alles normal!
    Wien ist nicht die Stadt, als die sie erscheint. Das Imperiale gehört keinem Imperium mehr, das Barocke keinem Phäakentum, das Biedermeier keinen sanften Idyllen, das Moderne keinen Modernisierern. So wie an den Galerien dieses Freudenhauses keine Lust wandelt.
    Wien ist eine Stadt der Kulissen. Man kann nicht hinter alle blicken, aber wenn man vor ihnen steht, sagt man sich Hier ist etwas gewesen. Was ist dahinter? Nichts. Vorne ist der Schein ohne Sein, dahinter das Sein ohne Schein.
    Das ist das vorläufig letzte Kapitel dieses Hauses: Wer will schon in einem ehemaligen Bordell wohnen?
    Und wer die Geschichte nicht kennt, muss sie doch sehen: Kleine, enge Wohneinheiten, zu klein für eine Familie, zu eng sogar für ein elaboriertes modernes Single-Leben. Diese Logen waren weder für Familien noch für Einzelne gedacht, sondern für schnelle Akte zu zweit. Wie soll das als Wohnhaus funktionieren? Schneller wohnen? Heute haben vier Schriftsteller und zwei Maler hier ihre günstigen Ateliers, ein paar Studenten haben hier ihre »Startwohnung«, ein paar Alte wissen noch Geschichten, aber haben gelernt zu schweigen. Herr Gärtner ist schon lange tot. Ein Nachbar, ein frühpensionierter Alkoholiker, pendelt täglich ins vis-à-vis gelegene »Café Sweet Dreams«. Und, ach ja, da ist noch eine Nachbarin, eine engagierte Hauptschullehrerin und Alt-Achtundsechzigerin, die ich manchmal auf unserer Galerie treffe, dann blicken wir hinunter auf das Parterre ohne Bühne, und sie will mir eine Zeitung ohne Leser verkaufen, die heißt: »Revolution!«. Hier, in diesem Haus, muss es sein, dass ich sie kaufe. Eine schnelle, billige, zweifelhafte Befriedigung.
    Dann schreibe ich weiter an meinem Roman, in dieser Zelle, in der man sich weggesperrt fühlt vom Leben, wie es scheint, und sich auf wenigen Quadratmetern doch in der Welt fühlen kann, wie sie ist, zumindest in dieser seltsamen Stadt, in Wien.

Der Geruch des Glücks
    Als meine Eltern sich kennenlernten, schienen sie füreinander bestimmt.

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