Ich kann jeder sagen
Ich kannte das, was war, zugleich wusste ich nicht, wie mir geschah, ich war zurückgekehrt an den Ort, in dem noch niemand war, ins Paradies.
Es ist unmöglich, mit dreißig eine solche Empfindung zu haben, ohne sofort zu versuchen, sie sich zu erklären, und zu bereuen, dass man sie dadurch unterbrochen hat.
Was war geschehen? Das Bett roch nach Maria. Wonach roch Maria? Es brauchte einige Zeit, bis mir das klar wurde: Maria verwendete Chanel N° 5.
Das Bett meiner Eltern. Das Bett meiner Mutter, in das ich als Kind geschlüpft war, das Gefühl von Geborgenheit, der größten, Ewigkeit, die nur ein Ziel, eine fixe Idee hatte: Zukunft, der Geruch des Glücks.
Fünfundfünfzig Sekunden: dann war die Nase Brei. Für ewig. Ingemar Johansson hatte das Nasenbein meines Vaters zertrümmert, die Nebenhöhlenknochen zerschmettert. Die Erstversorgung war laienhaft. Sie steckten ihm Wattestäbchen mit Jod in den blutigen Brei. Die Operation, die notwendig wurde, war stümperhaft. Kosmetisches Einrichten der Nase, ohne zu merken, dass darin Gewebe abstarb. Zu spät wurde auf eine Entzündung der Nasenschleimhäute reagiert. Der Nasenknorpel und die Schleimhäute schmolzen weg. Vater verlor, amtlich bestätigt, neunzig Prozent des Geruchssinns und musste dankbar sein, dass er einen Nasenbeinbruch überlebt hatte. Wie wird das gemessen, neunzig Prozent des Geruchssinns? Wie kann man das sagen? Wieso nicht siebzig oder fünfundneunzig Prozent? Gab es, so wie Fieberthermometer, einen Geruchsverlustmesser? Faktum war: Er konnte nichts mehr riechen. Er sagte: Das war eine andere Welt. In ihr war er nicht mehr zu Hause. Wenn er doch einmal glaubte, etwas riechen zu können, ganz leicht, einen Hauch, eine Ahnung von einem Geruch, dann multiplizierte das Hirn diesen Eindruck und signalisierte: mörderischen Gestank. Wenn er etwas roch, dann musste es unermesslicher Gestank sein, sonst, das wusste er, hätte er es nicht riechen können. Seine Welt war ruchlos, oder sie stank.
Ich saß in Marias Bett. Er ging. Mehr hatte ich auf Nachfrage nie erfahren. Mutter hatte immer nur gesagt: Er ging. Warum? Ich weiß nicht, er ging.
Und nun war es mir klar: Er hatte Mutter nicht mehr riechen können. Wie konnte man glücklich sein, wenn man nicht mehr riechen kann: den Geruch des Glücks.
Meine Mutter hat heute dickes, kastanienbraunes Haar. Sie ist stolz darauf: kein graues Haar. Ihre Nase ist etwas zu groß. Wie auch meine. Familie! Der Mann, den sie gefragt hatte, ob sie nicht zu groß sei, ging. Sie hat mich großgezogen – in einer Duftwolke. Sie ist stolz auf meinen Titel.
Ich arbeite heute als Chemiker und als »Nase«, so nennt man in der Chemie einen Parfumeur, in den Laboratoires Chanel. In Marias Bett hatte ich Witterung aufgenommen, die Fährte des Glücks gefunden. Ich arbeitete danach drei Jahre an einem neuen Duft, der im Grunde nichts anderes war als ein Remix der achtzig synthetischen Bestandteile von Chanel N°5. Ein Derivat, eine Ableitung, sozusagen ein Sohn des Muttergeruchs, ein Parfum mit Muttermalen. Es wurde ein Welterfolg. Man kann sagen: Weltmeister.
Der Geruch der Zeit. Er heißt: Egoïste.
Die amerikanische Brille
Ich war glücklich, als John F. Kennedy erschossen wurde.
Deborah war entsetzt. »Wie kannst du so etwas sagen?«
Sie hatte eben erst ein Kind verloren (es widerstrebt mir, zu sagen, dass »wir« es verloren haben), hatte drei Tage kaum ein Wort von sich gegeben und redete jetzt über – Kennedy. Wie sind wir darauf gekommen? Kind, Kindheitserinnerungen, Erinnerungen an dramatische Ereignisse, Schock im weltgeschichtlichen Maßstab. Ich weiß es nicht mehr. Ich hörte ihr zu – und doch nicht. Ich war erleichtert und konzentrierte mich darauf, meine Erleichterung nicht zu zeigen. Ich hatte dieses Kind nicht gewollt. Durch Deborahs Schwangerschaft war mir vollends klar geworden, dass ich mit ihr nicht mehr zusammenbleiben wollte. Ein Kind hätte die unausweichliche Trennung nur hinausgezögert, unser Leid vergrößert und es am Ende einem Dritten aufgebürdet.
Debbie aber redete von ihrem Unglück, schritt ihr ganzes Leben ab wie ein Stationendrama voller Schicksalsschläge, und ich dachte, dass ich noch einmal Glück gehabt hatte.
Am Nebentisch lümmelte ein junger Mann, der von Zeit zu Zeit Sätze in sein Handy brüllte, die wie Peitschenhiebe in unser Gespräch knallten.
»Du musst das Hirn ausschalten! Verstehst du?«
Wir saßen im Gasthaus »Zur Eisernen Zeit«, um die Ecke von
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