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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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unserer Wohnung. Meiner Wohnung. Wir hatten, von der Nachuntersuchung bei Debbies Frauenarzt kommend, unmittelbar vor dem Gasthaus einen Parkplatz gefunden und sind, ohne dass wir es vorgehabt hatten, hineingegangen und haben Gulasch und Bier bestellt. Ich war beim dritten Bier, Debbie trank nun Wein, zum ersten Mal seit fast einem halben Jahr. Ihr Gulasch war kalt geworden. Die Wohnung war kalt geworden, wir hatten beide nicht den geringsten Antrieb, nach Hause zu gehen.
    »Ich sage es dir noch einmal: Hirn ausschalten! Bitte!«, rief der junge Mann am Nebentisch ins Telefon. Und Debbie: »Wie kannst du so etwas sagen? Wie kannst du damals glücklich gewesen sein?«
    Weil es wahr ist, sagte ich. Ich war, als Kennedy erschossen wurde, ein Kind, sechs Jahre alt, und ich war glücklich. Meine Eltern sollten sich erst ein Jahr später trennen.
    »Oh mein God! Dann hast du ja gar nichts mitbekommen«, sagte sie, »aber bei uns zu Hause –«
    Wie mir ihr »Oh mein God!«-Getue auf die Nerven ging! Debbie war Amerikanerin, das heißt, sie besaß neben ihrem österreichischen auch einen amerikanischen Pass, weil sie in New York zur Welt gekommen war. Ihr Vater hatte dort als junger Diplomat im österreichischen Konsulat gearbeitet. Sie hatte nur ihre ersten vier Jahre in den USA verbracht, später noch vier Jahre in Helsinki, als ihr Vater dorthin versetzt wurde, aber das hatte offensichtlich keine Spuren hinterlassen. Und die acht Jahre in einem Schweizer Internat hatten auch keinen Niederschlag auf ihr Selbstverständnis und ihre Sprache gehabt. Nach ihrem Studium in Wien hatte sie sofort eine Anstellung gefunden – bei der österreichischen Niederlassung einer großen amerikanischen Werbeagentur. Da war sie wieder »zu Hause« angekommen, und ihr leichter amerikanischer Akzent, der zunächst so charmant wirkte, aber völlig unglaubwürdig war, wenn man ihre Biographie kannte, wurde endgültig zur selbstverliebt gepflegten Marotte.
    Das stimmt nicht, sagte ich. Ich habe es sehr wohl mitbekommen. Ich weiß zwar nicht mehr, was genau ich in dem Moment getan habe und wo ich gerade war, als die Nachricht kam, aber ich habe es doch mitbekommen. Meine Mutter umarmte mich, dann umarmte Vater meine Mutter. Es gab keinen Streit, alles war gut. Wir waren eine glückliche Familie, es war so innig. Deshalb war ich glücklich, während dauernd von »Kennedy« die Rede war. Ich habe begriffen, dass es um den amerikanischen Präsidenten ging. Auch in der Schule wurde darüber geredet. Ich hatte Mitschüler, deren Väter oder Großväter in amerikanischer oder in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen waren und davon erzählt hatten, und da waren sich alle Kinder einig: Es war besser, wenn man in amerikanische Gefangenschaft kam.
    Der Nebentisch: »Das ist ein mentales Problem! Verstehst du?«
    Der Junge hatte pomadisiertes, zu Igelstacheln gezwirbeltes Haar, das wie aufgesetzt wirkte auf der Glatze, die er bald bekommen würde. Alles an ihm war eine Spur zu groß. Der Anzug, der Hemdkragen, der Krawattenknoten. Die Schuhe, die so aussahen, als hätte er erst wenige Stunden zuvor im Schuhgeschäft gesagt: »Ich lasse sie gleich an!«
    »Ich war erst vier«, sagte Debbie, »es war kurz bevor mein Vater nach Österreich zurückgerufen wurde. Aber ich habe ganz deutliche Erinnerungen daran: Es war wie ein Weltuntergang!«
    Dass dein Vater zurückgerufen wurde?
    »Nein, das Attentat! Es war das Ende meiner Kindheit!«
    Mit vier Ende der Kindheit?
    »Ja!«
    Unmittelbar bevor ihr nach Österreich zurück musstet?
    »Ja!«
    Ach, hör doch auf! dachte ich.
    Ich hatte in der ersten Klasse einen Banknachbar, der Oswald hieß. Ich kann mich erinnern, dass ich meine Mutter damals mit klammer Stimme gefragt hatte, ob er mit dem Mörder von Kennedy verwandt sei. Meine Mutter ist mir lächelnd durchs Haar gefahren, hat mich geküsst und gesagt: Nein, sicher nicht. Das hatte ich natürlich selbst gewusst, so blöd war ich mit sechs ja auch nicht mehr, dass ich im Ernst geglaubt hätte, dass ein Mitschüler in Wien, mit Vornamen Oswald, verwandt sein könnte mit einem amerikanischen Attentäter, dessen Familienname Oswald war. Aber ich wollte in der damaligen Situation, deren Dramatik ich spürte, irgendwie signalisieren, dass ich auch teilhatte an der nervösen Verstrickung aller in das allgemeine Bangen und den Weltschmerz.
    Debbie schob ein Stück Fleisch auf ihrem Teller hin und her, legte dann die Gabel ab.
    Der junge Mann am Nebentisch hatte nun

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